Kino Filmfestival Cannes: Liebe in neuen Perspektiven

Chiara Mastroianni verkleidet sich wie Marcello, ihr Vater. Catherine Deneuve gefällt das eigentlich nicht - Szene aus „Marcello
Chiara Mastroianni verkleidet sich wie Marcello, ihr Vater. Catherine Deneuve gefällt das eigentlich nicht - Szene aus "Marcello mio" von Christophe Honoŕe.

Die Franzosen drehen auf im Wettbewerb von Cannes: Mit einer Hommage an Marcello Mastroianni und einem rasanten Gangsterfilm. Doch ein amerikanischer Film über russische Oligarchen ist noch schneller und lauter.

Der Familie kann man nicht entkommen, vor allem Chiara Mastroianni (51), die Tochter von Marcello Mastroianni (1924-1996) und Catherine Deneuve (80), kann es nicht. Als Model mit blonder Perücke steht Chiara im Trevi-Brunnen wie einst Anita Ekberg, als sie von Marcello in „La dolce vita“ beobachtet wird. Jetzt ist es nur der Fotograf, der Chiara herumkommandiert.

Als sie sich später im Spiegel betrachtet und dabei Marcello sieht, kommt ihr die Idee, sich als Marcello zu verkleiden: Mit kurzer Perücke, Brille und Schnäuzer, Frack und Hut sieht sie tatsächlich aus wie ihr Vater. Catherine (auch sie spielt sich selbst) findet das nicht so gut, aber Chiara macht weiter in „Marcello mio“ von Christophe Honoré, schließlich sah sie ihrem Vater schon immer ähnlicher als ihrer Mutter. Sie beginnt Italienisch zu sprechen und verlangt, dass man sie Marcello nennt. Chiaras Ex-Männer im wahren Leben tauchen auf (Melvil Poupaud und Benjamin Biolay), Szenen aus Marcello-Filmen werden wie zufällig eingestreut. Doch Catherine singt davon, wie schlimm es mit Marcello war, der viele Liebschaften hatte.

Der locker dahinplätschernde Film ist eine neue unterhaltsame Form von Hommage, die einmalig ist, da die beiden wichtigsten Frauen Marcellos sich dabei auch selbst auf den Arm nehmen. Allerdings: Wer Marcello, seine Filme und sein Leben nicht kennt, wird sich eher langweilen.

Die Liebenden aus „L’amour ouf“ von Gilles Lellouche: Clotaire (François Civi, links) und Jackie (Adèle Exarchopoulos).
Die Liebenden aus »L’amour ouf« von Gilles Lellouche: Clotaire (François Civi, links) und Jackie (Adèle Exarchopoulos).

Gilles Lellouche (51), bei uns eher als Schauspieler denn als Regisseur bekannt, kombiniert in seinem Film „L’amour ouf“ (Tja, die Liebe) Gangsterfilm und Liebesfilm zu einem Dreistundenwerk. Es ist einer der beiden großen französischen Blockbuster des Sommers (der andere, die Neuverfilmung „Der Graf von Monte Christo“, auch drei Stunden lang, lief beim Festival als Sondervorstellung). Jackie, brave Schülerin und Mittelstandstochter, verliebt sich in einen Tunichtgut namens Clotaire, beide sind Teenager. Clotaire ist erst bei kleinen Einbrüchen dabei, dann bei einer großen Sache, bei der es zu einem Mord kommt. Zwar hat er den Mord nicht begangen, wird aber zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt.

Während die Liebenden anfangs noch verzweifelt sind, dass sie nicht mehr zueinander kommen können, findet Jackie einen neuen Mann, den sie heiratet. Doch als Clotaire mit Ende 20 aus dem Gefängnis kommt, sich an den Mittätern von einst rächt und weiter seine Gaunereien betreibt, erkennt Jackie, dass sie ihn noch immer liebt. Eine tragische Geschichte, die erstaunlich bieder endet.

Faszinierende Vorstellung: Mickey Madison , die Haupdarstellerin aus „Anora“ von Sean Baker.
Faszinierende Vorstellung: Mickey Madison , die Haupdarstellerin aus »Anora« von Sean Baker.

Doch nicht die Geschichte, sondern die Form ist es, die den Film zum Blockbuster macht: Raubzüge zu lauter Rockmusik, Bilder wie im Hollywood-Gangsterfilm, Farben wie bei Nicolas Winding Refn, charismatische französische Stars (Adèle Exarchopoulos, Alain Chabat, François Civil) – all das sorgt dafür, dass man als Zuschauer nicht zu Ruhe kommt und manchmal Mühe hat, der Handlung mit ihren Zeitsprüngen und abrupten Wendungen zu folgen.

Bei „Anora“ des US-Amerikaners Sean Baker (52, Arthouse-Hit „The Florida Project“) möchte man sich manchmal die Ohren zuhalten, so laut schreit Anora (Mikey Madison), als die Schergen des russischen Oligarchen sie fesseln. Die 23-jährige Sexarbeiterin hatte den 21-jährigen Oligarchensohn im Bordell kennengelernt. Er bestellte sie zu sich in eine New Yorker Supervilla, die zu einer abgeschlossenen Wohnanlage für Reiche gehört, und ist so glücklich, dass er sie heiraten will. Dann bekäme er die amerikanische Staatsbürgerschaft und könnte im Land bleiben, auch wenn das seine Eltern nicht wollen.

Die sind entsetzt, als sie von der vollzogenen Hochzeit erfahren und setzen von nett bis brutal alle Mittel ein, um die Ehe zu annullieren und den verspielten Sohn wieder auf richtige Gleis zu bringen. Doch das ist nicht so einfach. In vielen Szenen ist „Anora“ eine Komödie. Mit der klischeehaften Romantik zwischen der Prostituierten und dem Freier à la „Pretty Woman“ hat der Film aber nichts gemein. Hier weiß jeder, wer er ist, man hat Spaß, man hat Sex, man scherzt viel und hört laute Musik. Schnelle Schnitte und wie im Slapstick-Kino angelegte humorvolle Nebenfiguren sorgen für Lacher und für zweieinhalb Stunden gute Unterhaltung. Gesellschaftskritik, sei es an den Oligarchen, an Amerika oder den jungen Leuten, die nur sich und ihr Glück im Blick haben, gibt es nicht.

Zwei wichtige Wettbewerbsfilme sind erst am späten Freitagabend zu sehen und müssen hier fehlen: der märchenhafte Animationsfilm „La plus préciseuse des marchandises“ von Palmen- und Oscar-Gewinner Michel Hazanavicius und der heimlich gedrehte irankritische Dreistundenfilm „The Seed of the Sacred Fig“ des gerade erst in seiner Heimat erneut verurteilten Berlinale-Gewinners Mohammed Rassulof. Die Goldene Palme gibt es am Samstagabend.

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