Die Wochenend-Kolumne Ich bin der Meinung, ...

Klaus D. Kullmann
Klaus D. Kullmann

... dass der deutsche Sport nach der Wende schleichend ins Mittelmaß verfiel.

Ich saß vor 30 Jahren in einem Café in La Paz und las von der Öffnung der Berliner Mauer in der bolivianischen Tageszeitung El Diario. Es entging mir, die unmittelbare, pure Freude mit den Bürgern der DDR zu teilen. Leider. In die Sportredaktion kam ich ein Jahr später und warf gleich zu Jahresbeginn 1991, als die Einheit im deutschen Sport gerade vollzogen war, in dieser Meinungskolumne die Frage auf, wie denn diese Sport-Zwangsehe gelingen könnte. Es war kein von Harmonie geprägter Zusammenschluss auf Augenhöhe, die ostdeutsche Verbände mussten den westdeutschen beitreten. Vielleicht ging es ja nicht anders, aber: Der Prozess strotzte vor Arroganz der „Wessis“. Für den Osten änderte sich fortan alles, für den Westen nichts.

Braut und Bräutigam sprachen zwar die gleiche Sprache, verstanden sich aber nicht. Wie denn auch? Keine Liebe auf den ersten Blick, puh! Keine Zuneigung, nein. Im Gegenteil: Missgunst und Skepsis. Immerhin: Wenn nicht die gleiche Sprache, so doch die gleichen Regeln ließen den Sportlern die Freiheit, die Einheit besser hinzukriegen als es in anderen Teilen der Gesellschaft gelang.

Keine Traumhochzeit, keine Scheidung

Kohls Versprechen von blühenden Landschaften angesichts der desolaten DDR-Sportstätten klangen wie blanker Hohn, Brandts Prophezeiung, jetzt wachse zusammen, was zusammen gehört, implizierte eine Traumhochzeit, die keine war. Sicher war nur: Eine Scheidung wird es nicht (mehr) geben.

„Ihr werdet die Nummer eins in der Welt werden“, mutmaßte die „New York Times“ und ließ die deutschen Sportfunktionäre, die meisten zumindest, vor Kraft nicht mehr schlafen. Und Beckenbauer hatte schon damals, nach dem WM-Sieg am 8. Juli 1990, seinen Blick für die Wirklichkeit verloren, als er mutmaßte, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft werde, aufgewertet durch die hoch talentierten Kicker der DDR, auf Dauer unschlagbar sein. Gespielt hat keiner aus der DDR. Gefeiert hat trotzdem das ganze Land. Vergleichbar mit dem Wunder von Bern war es aber nicht.

Die Stasi und das erzwungene Massendoping, die Überwachung und die zentrale Organisation, die Verwissenschaftlichung, vor allem aber die maroden Sportstätten – all das nahm dem DDR-Sport die Überlebenschance. Vom an sich sehr guten Sichtungs- und Fördersystem blieb nichts übrig. Außerdem: In vielen Sportarten gab es weiße Flecken. Wurde jemals Tennis in der DDR gespielt? Nein!

Dagegen stand der schon früh verkommerzialisierte Westsport, der autonom agierte, föderal organisiert war und auf einem Breitensport basierte, der aus den Vereinen kam. Die DDR kannte eher den Betriebs- denn den Vereinssport.

Durch die Vereinigung wurden Stellen für Trainer, Physiotherapeuten, Sportlehrer und -mediziner nicht automatisch neu geschaffen. Jene aus dem Osten verloren ihren Job und trugen ihr Know-how hinaus in die Welt, wo sie Arbeit fanden.

Zum Dopingsystem im Westen bekennen

Auch wenn sich Wissenschaftler und Ärzte in Ost und West hinter vorgehaltener Hand über Doping auf beiden Seiten ausgetauscht hatten, das Misstrauen in der Öffentlichkeit war riesengroß. Der Westen zeigte auf den Osten. „Erfolgreich“ gedopt wurde aber auf beiden Seiten. Jedoch: Erst wenn die Bereitschaft da ist, sich zum Dopingsystem im Westen zu bekennen, etwa durch die Veröffentlichung der vorliegenden Studie der Humboldt-Universität Berlin, kann der Sport in Ost und West während des Kalten Krieges neu bewertet werden.

Deutschland war 1992 in Albertville die Winternation Nummer 1 und starker Dritter im Sommer in Barcelona. Danach machte es sich schleichend auf den Weg ins Mittelmaß. Der Vorsprung war aufgebraucht, weil sich die beiden Systeme kaum zusammenführen ließen. Und zu lange blieb in den Köpfen die Grenze gezogen. Bis heute noch. Nicht unter den aktuellen Sportlern, aber bei Trainern und Funktionären, die jetzt kurz vor dem Ruhestand stehen.

Der Lebenswandel in der freien Gesellschaft, die ehrenamtliche und damit nichtprofessionelle Führung in den Verbänden, die unfassbare Verwaltungsbürokratie und die undurchsichtige Leistungssportreform stehen dem deutschen Sport im Weg. Gut ist nur, so scheint es im Anti-Doping-Kampf, dass nicht mehr um jeden Preis um den Erfolg gekämpft wird.

Holte Olympiagold für die DDR und für die Bundesrepublik: Keike Drechsler
Holte Olympiagold für die DDR und für die Bundesrepublik: Keike Drechsler Foto: Kunz
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