Rheinpfalz Die Zerreißprobe: Eskaliert der Machtkampf in der Bundesregierung?

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Noch keine 100 Tage ist diese Bundesregierung im Amt, schon droht ihr das Aus. Der Machtkampf Horst Seehofers mit der Kanzlerin ist eskaliert. Die Autorität von Angela Merkel ist so beschädigt wie noch

nie. In Berlin schließt niemand das Ende der Koalition aus. Schafft Seehofer am Montag Fakten?

Am nächsten Donnerstag wäre es soweit. Dann könnte die große Koalition die 100-Tage-Marke ihrer Amtszeit überschreiten. Früher hielten sich Kritiker von außen zurück, bis diese Frist abgelaufen war. Man gönnte einer neuen Regierung eine angemessene Einarbeitungszeit. Doch heute sitzen die Kritiker mitten in der Regierung, sie fackeln nicht lange, sie bekriegen sich sofort. Und sie schaffen es womöglich, sich selbst zu zerstören. Vielleicht gibt es am 100-Tage-Donnerstag gar keine Regierung mehr. Keiner der Koalitionäre wünscht sich das, aber niemand schließt das aus. In Berlin findet gerade ein Tanz auf der Rasierklinge statt. Gibt es überhaupt eine Lösung in diesem Streit? Andererseits: Um welchen Streit geht es eigentlich? Ist es allen Ernstes der Streit um die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze, der diese Regierung binnen weniger Tage völlig zerrüttet hat? Ist das am Ende der Grund, ein Bündnis aufzukündigen, um das in langen Wochen hart gerungen wurde und das sich auf die Fahnen geschrieben hat, wichtige Zukunftsfragen zu klären: die Digitalisierung der Arbeitswelt, die Zukunft der Bildung, die Erneuerung Europas, die Krisenfestigkeit der Rente, bezahlbarer Wohnraum?

Auftrag für einen harten Schnitt?

Die CSU weiß das. Doch sie nimmt das Rumoren in der Bevölkerung über die Asylpolitik wahr und leitet daraus den Auftrag ab, einen harten Schnitt zu machen. Sie will die Grenzen zwar nicht absolut dicht, doch zumindest fühlbar sicherer machen. Was die CSU der Kanzlerin ankreidet, ist das Aussitzen eines seit Beginn der Flüchtlingskrise bestehenden Problems: Noch immer kommen viele ins Land, die bereits in einem anderen EU-Land als Asylsuchende registriert wurden. Nach den EU-Regeln müssten diese in das Land ihrer Ankunft zurückgeschickt werden. Dort soll nach dem sogenannten Dublin-Verfahren das Asylverfahren durchgeführt werden. Zumal manche, die bereits abgeschoben wurden, es erneut in Deutschland versuchen – und auch erneut ein Asylverfahren bekommen. Merkel will das Problem europäisch regeln. Denn sie fürchtet abgesehen von rechtlichen Fragen den Domino-Effekt: Schickt Deutschland diese Menschen zurück, müssen sich vor allem Griechenland und Italien um sie kümmern. Diese Länder wären binnen kurzer Zeit überfordert. „Einseitig national“, so Merkel, sei nun mal keine Lösung.

Die Tücken der Regelung

Seehofer weiß um die Tücken dieser Regelung. Nach der Bundestagswahl, als CDU und CSU schon einmal über einen Kompromiss in der Flüchtlingsfrage verhandelten, erfuhr er, dass die meisten Flüchtlinge nach Deutschland kommen, ohne in ihrem Ankunftsland registriert worden zu sein. Man kann sie also nirgendwohin zurückschicken. Damals räumte Seehofer ein: „Die Zurückweisung an der Grenze ist eine hochkomplizierte, auch juristische Angelegenheit, die eine Reform des Dublin-Verfahrens voraussetzen würde.“ Heute sieht er es anders, und das hat auch etwas damit zu tun, dass die CSU vor einer schwierigen Landtagswahl in Bayern steht. Es droht ihr der Verlust der absoluten Mehrheit. Nur das zählt. Rücksicht auf die Schwesterpartei zu nehmen, ist bei Christsozialen ohnehin eher die Ausnahme. Deswegen bleibt Seehofer auch hart, wenn es um seinen „Masterplan“ geht.

Kampfansage an die Kanzlerin

Das Papier, das offiziell noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat, sondern nur in den Parteispitzen von CDU und CSU zirkuliert, ist eine Kampfansage an die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, womöglich auch eine persönliche Abrechnung Seehofers mit Merkel. Sie war es, die vergangene Woche Bedenken anmeldete und eine Pressekonferenz Seehofers zu dem Papier platzen ließ. Der „Masterplan“ enthält 63 Punkte, von denen 62 nicht strittig sein sollen. Umstritten sei der letzte Punkt: Die Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutschen Grenze. Der Casus Belli, die Kriegserklärung an die Kanzlerin. Offen zutage tritt das Zerwürfnis der beiden Kontrahenten am vorigen Donnerstag, als die CDU- und CSU-Abgeordneten im Bundestag in getrennten Sitzungen sich aussprechen. Getrennte Sitzungen – das riecht nach „Kreuth“, wo 1976 jener unheilvolle Trennungsbeschluss gefasst wurde, die Fraktionsgemeinschaft der Union im Bundestag nicht weiter fortzuführen. Er wurde damals auch als Startschuss aufgefasst für das Bestreben der CSU, sich bundesweit als vierte Partei zu etablieren. Keine vier Wochen später wurde der Trennungsbeschluss zurückgenommen, die beiden Parteien kehrten zu ihrer Fraktionsgemeinschaft zurück. Die CSU pocht gleichwohl bis heute auf ihre Eigenständigkeit.

Machtprobe ohnegleichen

Was sich auf der Fraktionsebene des Bundestages abspielt, ist eine Machtprobe ohnegleichen. Schon eine Woche lang wurde verhandelt, in den unterschiedlichsten Konstellationen, zuletzt im Kanzleramt. Seehofer hat nicht klein beigegeben, er lehnt eine europäische Lösung ab, weil diese nicht zu erwarten sei, wie es sinngemäß heißt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gibt zu Protokoll, dass es nun gelte, „alte Fehler zu beheben und das Richtige zu tun“. Sollten sich europäische Lösungen abzeichnen, „können wir gerne reden“, aber jetzt dürfe man keine Zeit verlieren und „halbe Sachen“ machen. Die CSU kann sich dabei auf ihre Fraktionsmitglieder verlassen. Sie stünden „zu 100 Prozent“ hinter Seehofer, verkündet nach der Sitzung CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Beschlossen wurde, morgen im Parteivorstand Rückendeckung für die Zurückweisung an der Grenze zu geben.

Fata Morgana

Merkels Angebot, mit betroffenen EU-Staaten zu reden und bis zum Europäischen Rat in zwei Wochen eine Lösung anzubieten, interessiert die CSU-Leute nicht die Bohne. „Merkel will unsere Geduld und unser Vertrauen. Aber wir haben beides nicht“, sagt der CSU-Politiker Hans Michelbach. Die „europäische Lösung“, die Merkel anstrebt, ist für viele eine Fata Morgana. Man hätte sie schon vor drei Jahren erreichen können, doch sie ist immer noch nicht da. Auch im CDU-Teil der Fraktion werden die Zweifel an der Autorität Angela Merkels nicht mehr hinter vorgehaltener Hand verbreitet. Der CDU-Abgeordnete Armin Schuster aus Baden-Württemberg sagt, was seiner Meinung nach viele seiner Kollegen denken: „Kommt keine europäische und keine nationale Lösung, könnte das zu einer Vertrauensabstimmung in der Fraktion führen.“

Bayerische Kontrollen an 3 von 90 Grenzübergängen

Welche Chancen aber gibt es für die Union, aus diesem Dilemma herauszukommen? Merkel kann Zeit schinden und Seehofer zusagen, dass man mir ihr nach dem EU-Gipfel über die Zurückweisung bestimmter Gruppen reden könne. Vielleicht bewegt sich in Brüssel ja doch etwas. Seehofer wiederum könnte das tun, was er schon wiederholt getan hat, nämlich Drohungen nicht umzusetzen. So hat er monatelang eine Verfassungsklage gegen die Flüchtlingspolitik angekündigt, die die CSU aber nie einreichte. Realistisch gesehen, ist die Grenzkontrolle auch nur mit einem enormen Personalaufwand zu machen. Söder hat gerade eingeräumt, dass die Bundespolizei nur an drei von 90 Grenzübergangen in Bayern durchgängig kontrolliert. Dabei sind die Schleichwege noch nicht einmal einbezogen. Söder könnte erklären, dass es viel wichtiger sei, in Bayern und in anderen Bundesländern funktionsfähige Ankerzentren zu errichten, die mit strengem Blick über die Asylpolitik wachen würden. Damit wäre der Konflikt vorerst vom Tisch. Sollte Seehofer morgen aber Fakten schaffen, ist das Ende nicht mehr weit: Wenn er will, kann er per Ministerentscheid seinen „Masterplan“ umsetzen, das Plazet der CSU gilt als sicher. Merkel müsste ihn dann entlassen, da Seehofer gegen das Kanzlerprinzip verstoßen hätte. In Artikel 65 des Grundgesetzes steht: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik.“ Die CSU-Minister würden aus Solidarität zurücktreten – es wäre das Aus für die große Koalition, denn ohne die CSU hat die Regierung keine Mehrheit. Es wäre das Ende von Merkels Kanzlerschaft – ein unrühmliches.

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Beziehungskiste: Angela Merkel (CDU) und ...
Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) sind wieder mal auf Konfrontationskurs. Diesmal ist sogar die Regierung in Gefahr.
... Horst Seehofer (CSU) sind wieder mal auf Konfrontationskurs. Diesmal ist sogar die Regierung in Gefahr.
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