Politik Zwischen Frohsinn und Sperrzone

Volksfeststimmung in Mainz: Es wird gefeiert unter dem Motto „Zusammen sind wir Deutschland“.
Volksfeststimmung in Mainz: Es wird gefeiert unter dem Motto »Zusammen sind wir Deutschland«.

Am rheinland-pfälzischen Stand läuft die „Ode an die Freude“. Daneben erzählen die Bremer das Märchen von ihren Stadtmusikanten. Über allen kreist laut ein Polizeihubschrauber, unten auf dem Rhein sind zwei Polizeiboote unterwegs, selbst eine Tauchergruppe der Polizei steht in Reserve. Die Gefährdung durch Terroristen ist nicht ganz auszuschließen. Und Störer sollen die Feiern auch nicht vermiesen. So will es die Landesregierung. Deshalb hat die Polizei aufgerüstet wie wohl noch nie vorher bei einem Fest im Land. 3000 Polizisten sind am ersten Tag der zweitägigen Einheitsfeiern im Einsatz. Am Feiertag sind es sogar 4300 Beamte aus 14 Bundesländern. Bereitschaftspolizisten warten abseits des Trubels in den Nebengassen, Spezialeinsatzkräfte aus mehreren Ländern stehen für schlimme Fälle bereit. Knapp 120 Straßen und Gassen sind mit Betonquadern oder Lastwagen blockiert, um Attacken mit Fahrzeugen zu verhindern. Polizisten stehen an jeder Ecke: unaufdringlich, aber unübersehbar. Nicht jedem gefällt der Polizeiaufmarsch. Scharfschützen auf der Rheingoldhalle machen auch Angst. Polizeigewerkschafter beklagen Organisationsmängel bei der Versorgung der Einsatzkräfte und Zwölf-Stunden-Schichten. Einer spricht von „Sicherheitswahn“. Ministerpräsidentin Dreyer verteidigt das Sicherheitskonzept. Es sei gut, wenn nicht alle verfügbaren Kräfte zum Einsatz kommen. Solange nichts passiere, sei es einfach, über übertriebene Polizeipräsenz zu reden. Verstörend ist dennoch der Blick in die Gotthard-Kapelle des Mainzer Doms: Mit Helm und Schutzwesten ausgestattete Polizisten halten sich im Gotteshaus für den Fall der Fälle bereit, während die Fernsehkameras festhalten, wie die Spitzen der Verfassungsorgane in der ersten Reihe Platz nehmen: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerin Angela Merkel, der scheidende Bundesratspräsident Norbert Lammert, die Gastgeberin, Bundesratspräsidentin und Ministerpräsidentin Malu Dreyer sowie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Der ökumenische Gottesdienst verläuft planmäßig. Auf eine besondere Weise legt er den Akzent darauf, was deutsche Einheit 27 Jahre nach der Wiedervereinigung ausmacht. Dafür stehen Rheinland-Pfälzer, die außergewöhnliche Projekte vorstellen: Till Baeckmann von „Rent a Jew“, Miete einen Juden. Das Projekt macht Begegnungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen an Schulen oder Universitäten möglich. Oder Gülbahar Erdem von der Initiative Muse, die sich um muslimische Seelsorge kümmert. „Ich bin eine Muslima und glaube an die Freiheit, Würde und Verantwortung, die mir mein Schöpfer in dieses Leben mitgegeben hat.“ Da steht sie mit ihrem Kopftuch im 1000 Jahre alten katholischen Mainzer Dom und wirkt nicht fremd. Feierlich ist der Gottesdienst und würdig der Festakt in der Rheingoldhalle mit 1200 geladenen Gästen. Beethovens neunte Sinfonie fehlt auch dort nicht, aber das Leitmotiv ist der Rhein – Vater Rhein, gestaltet als Puppe, der sich seine Gedanken über das Leben am Ufer macht. Gedanken über Deutschland, so hätte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Rede überschreiben können. Er fordert Ehrlichkeit, fürchtet neue Mauern und will die Sehnsucht nach Heimat nicht den Nationalisten überlassen, die zu den politischen Aufsteigern der Bundestagswahl vor zehn Tagen gehören. Die Terrorgefahr bleibt in den Reden außen vor. Präsent ist sie dennoch beim Festakt. Die Gäste durften die wenigen hundert Meter zwischen Dom und Rheingoldhalle nicht zu Fuß gehen. Stattdessen fahren Shuttle-Busse durch befremdlich wirkende Straßen, die ausschließlich von Uniformierten bevölkert sind. Bei der Einheitsfeier 2016 in Dresden waren Politiker von Passanten mit Hassparolen angepöbelt und laut beschimpft worden. Darauf wollen es die Organisatoren in diesen Jahr nicht ankommen lassen. Der Bereich um Dom und Rheingoldhalle ist großräumig abgeriegelt und zur Sicherheitszone erklärt. Ohne Akkreditierung und Sicherheitscheck kommt niemand hinein. 680 Anwohner sind betroffen. Sie müssen sich ausweisen, wollen sie ihre Wohnung verlassen oder aufsuchen. Sie sind angehalten, vom Balkon zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten. Auch wer als Gast nach Mainz gekommen ist, muss nicht ganz ausgeschlossen bleiben, wenn die Regierenden die Einheit feiern. In der Nähe des Doms gibt es zwei Schlupflöcher durch die Polizeiketten. Taschenkontrolle, Leibesvisitation, dahinter warten eine weitere Absperrung und die Chance, einen Blick oder gar die Hand von Kanzlerin oder Bundespräsident zu erhaschen. Nicht alle finden das gut. Solche Kontrollen hätten sie noch nie erlebt, meckert ein älteres Ehepaar, das eigens aus Westfalen zum Bürgerfest gekommen ist. Aber das Mainzer Publikum enttäuscht die Regierenden nicht. Kein böses Wort. Freundlicher Beifall ist zu hören, als Kanzlerin Merkel aus dem Dom kommt und zum Händeschütteln Richtung Absperrung geht. Dutzende Smartphones werden in die Höhe gehalten, um den Moment als Bild zu speichern. Applaus auch zum Abschied, die Kanzlerin winkt. Das Volk kehrt zurück zum Fest. Eine Mainzer Seniorin ist aus dem Häuschen: 90 Minuten hat sie in der ersten Reihe gewartet, und dann hat ihr Steinmeier die Hand gedrückt. Zur gleichen Stunde formiert sich neben dem Mainzer Hauptbahnhof der Widerstand gegen die Einheitsfeiern. Linke Gruppierungen und Globalisierungskritiker haben zur Demo aufgerufen. Das Netzwerk Attac ist dabei und ein „Bündnis 3. Oktober Mainz“, das sich als „antifaschistischer, antinationaler und antikapitalistischer Block“ bezeichnet. Die Organisatoren sind sauer, gerne würden sie ihren Protest Richtung Festmeile tragen. Die Stadt Mainz hat es verboten, stattdessen soll es vom Bahnhof aus in eine andere Richtung gehen. Rund 150 Leute sind zur Kundgebung gekommen. „Nie wieder Deutschland“, rufen sie. Auf den Demonstrationsmarsch verzichten sie am Ende ganz. Es bleibt friedlich. Deutschland feiert sich und seine Wiedervereinigung zwei Tage lang weitgehend ungestört. Schon am Montag werden 150.000 Besucher gezählt. Andrang herrscht vor den Musikbühnen, von denen vor allem deutsche Stars wie Tim Bendzko oder Culcha Candela zu hören sind. Karat, Kultband in der Ex-DDR, schmettert ihren deutsch-deutschen Titel „Über sieben Brücken“ in den Mainzer Abendhimmel. Anziehungspunkt ist auch die Ländermeile, in der sich alle 16 Bundesländer präsentieren. Die Berliner haben ihr Brandenburger Tor als großes Kunststoffmodell mitgebracht, die Hamburger mit Sand ein Stück Elbstrand aufgeschüttet. Die meisten Länder nutzen die Gelegenheit zur Fremdenverkehrswerbung. Die Hessen sind stolz auf ihren Frankfurter Flughafen, und die Bayern haben ein stilechtes Bierzelt aufgebaut. Apropos Essen und Trinken: Man kann Mainzer Fleischwurst essen, saarländischen Schwenkbraten oder Kirschtorte aus dem Schwarzwald. Man kann aber auch Unbekanntes probieren, wie Oderströmling, eine Fischwurst aus Brandenburg, oder Sanddornspezialitäten aus Mecklenburg-Vorpommern. Zweierlei gibt es an fast jedem Länderzelt: eine regionale Bierspezialität und Bratwurst. Womit klar ist, was Deutschland in jedem Fall eint.

Für alle Fälle: Scharfschützen der Polizei in einem Turm des Mainzer Doms.
Für alle Fälle: Scharfschützen der Polizei in einem Turm des Mainzer Doms.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Ehefrau Elke Büdenbender (links) empfangen nach dem Festakt in der Rheingoldha
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Ehefrau Elke Büdenbender (links) empfangen nach dem Festakt in der Rheingoldhalle eine Bürgerdelegation aus Rheinland-Pfalz.
Politikerinnen ganz nah: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Malu Dreyer (vorn) beim Händeschütteln und Verfer
Politikerinnen ganz nah: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Malu Dreyer (vorn) beim Händeschütteln und Verfertigen von Smartphone-Selfies.
x