Politik Wodurch wurde radioaktives Isotop freigesetzt?

Die Bundesregierung geht davon aus, dass 2017 im Süd-Ural Radioaktivität freigesetzt wurde. Doch Russland hat bis heute keinen derartigen Vorfall gemeldet. Die Grünen im Bundestag beklagen, der Sache sei nicht hartnäckig genug nachgegangen worden.

Es ist ein gutes halbes Jahr her, dass in ganz Europa erhöhte Werte von Ruthenium 106 gemessen wurden. Weil dieses Isotop in der Natur nicht vorkommt, sondern bei der Kernspaltung von Uran oder Plutonium entsteht, geht auch die Bundesregierung davon aus, dass es in Russland Ende September zu einem Atomunfall der dritthöchsten Kategorie gekommen ist – nicht vergleichbar mit Tschernobyl 1986 oder Fukushima 2011, aber doch immerhin mit Harrisburg 1979, als es im Reaktor Three Mile Island zu einer teilweisen Kernschmelze kam. Zu den Folgen gab es widersprüchliche Studien. Eine sah eine erhöhte Anzahl von Krebserkrankungen in der Umgebung als Folge, eine andere nicht. Was vergangenes Jahr in Russland passiert ist, ist unklar. Es lässt sich, so schreibt die Bundesregierung auf Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, „bis heute nicht die Ursache der Ruthenium-106-Freisetzung bestimmen“. Anhaltspunkte und Spuren gibt es mittlerweile aber schon. Berechnungen des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) und der französischen Amtskollegen zur Ausbreitung der Ruthenium-Wolke, die mit Messdaten des russischen Wetterdienstes Roshydromet abgeglichen wurden, lassen die Bundesregierung inzwischen davon sprechen, dass „als wahrscheinlichstes Ursprungsgebiet die Region Süd-Ural bestimmt werden“ konnte. Dort ist die kerntechnische Anlage Majak angesiedelt, die einst kernwaffenfähiges Material produzierte, mittlerweile aber vor allem der Wiederaufbereitung dient. Der Anfangsverdacht, der schon im Herbst geäußert wurde, hat sich somit auch für die Regierung erhärtet. Russland hat bis heute jedoch kein entsprechendes Vorkommnis gemeldet. „Eine Notifizierung eines für die Ruthenium-106-Freisetzung ursächliches Ereignis gemäß der Frühwarnkonvention der IAEO liegt bis heute nicht vor“, schreibt das Umweltministerium in seiner Antwort an die Grüne Kotting-Uhl, die der RHEINPFALZ vorliegt. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO in Wien muss gemäß der internationalen Übereinkunft umgehend nach Unfällen informiert werden – auch nach solchen, deren Gefahrenpotenzial nicht sofort klar ist. Wenn es tatsächlich in Russland zu einem Atomunfall gekommen sein sollte, ist diese Information unterblieben. Im Oktober kontaktierte ein deutscher Atomexperte auf Bitte des Umweltministeriums einen russischen Kollegen und wurde mit der Antwort beschieden, es habe „keine Vorfälle in Verbindung mit einer Freisetzung von Ruthenium 106 auf russischem Gebiet gegeben“. Einen Monat später hakte die deutsche Botschaft in Moskau beim russischen Außenministerium nach – die Nachfrage wurde erst gar nicht beantwortet. Anschließend setzte das Institut für Nuklearsicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften (IBRAE) im Dezember immerhin eine unabhängige Untersuchungskommission ein, der auch Sachverständige mehrerer EU-Staaten angehören. Ein Abschlussbericht der Experten steht noch aus. Das Ergebnis ist Unwissen über einen gefährlichen Vorgang. „Gut drei Jahrzehnte nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl stehen wir vor der gleichen Mauer des Schweigens und der Desinformation des verantwortlichen Staates wie damals“, sagt Kotting-Uhl, die Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag. Die Grünen im Bundestag ärgern sich besonders darüber, dass ihrer Ansicht nach das internationale Frühwarnsystem unterlaufen worden ist und die Bundesregierung trotzdem keinen Anlauf für dessen Verbesserung unternimmt. Berlin will erst einmal den russischen Bericht abwarten.

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