Politik Hartz IV – zwischen Fakten und Emotionen

Es ist ein Streit, der so alt ist wie das Gesetz, über das gestritten wird. Die Frage lautet: Ist Hartz IV „Armut per Gesetz“, wie es Linke formulieren, oder sichert der Staat mit seinen Zahlungen die Existenz von Menschen und bewahrt sie vor Not, wie es offizielle Regierungslinie ist? Der CDU-Politiker Jens Spahn macht sich diesen Streit zunutze, um sich als Konservativer zu profilieren.

In der Diskussion um Armut und den zwischenzeitlichen Aufnahmestopp für Ausländer bei der Essener Tafel hat Jens Spahn in einem Interview gesagt, auch ohne die Tafeln müsse hierzulande niemand hungern. Deutschland habe „eines der besten Sozialsysteme der Welt“. Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut. Spahn kennt das politische Geschäft gut genug, um zu wissen, wie sehr das Thema Emotionen weckt. Sozialneid und Ressentiments gegen Ausländer flankieren die Debatte, die in den sozialen Netzwerken wieder einmal ein unterirdisches Niveau angenommen hat. Nüchtern betrachtet treffen Spahns Aussagen einen wahren Kern, über den es sich zu diskutieren lohnt; dazu später mehr. Doch so verkürzt wie sich der künftige Gesundheitsminister über das Sozialsystem äußert, ist sein Versuch schnell durchschaubar – als Provokation, gerichtet gegen jene, die den Sozialstaat ausbauen wollen. Dass Spahn so etwas wie Mitgefühl für die Menschen am unteren Ende der Wohlstandsskala vermissen lässt, unterstreicht seine Absicht, sich als Hardliner zu präsentieren. Wo aber hat Spahn recht, wo irrt er sich? Der Reihe nach: In Deutschland muss in der Tat niemand verhungern, und jeder, der sich helfen lassen will, hat auch ein Dach über dem Kopf. Man muss sich mit den Zahlen beschäftigen, um ein Sozialsystem zu begreifen, um welches die Deutschen in aller Welt beneidet werden. Der Regelsatz für eine Einzelperson beträgt derzeit 416 Euro im Monat. Paare bekommen 374 Euro je Partner, für Kinder kommen je nach Alter 240 bis 316 Euro obendrauf. Außerdem übernimmt bei Bedürftigen der Staat noch die Kosten für die Wohnung und die Heizung. Eine vierköpfige Familie hat laut Arbeitsagentur derzeit Anspruch auf durchschnittlich insgesamt rund 1950 Euro vom Staat. Damit kann man leben. Eine andere Frage ist, welches Leben man damit führen kann – ein komfortables ist es nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber auferlegt, die Hartz-Regelsätze nicht nach Gutdünken oder nach politischen Vorgaben festzulegen, sondern in einem aufwendigen, nachvollziehbaren Verfahren, das an der Lebenswirklichkeit ausgerichtet ist. Die Regierung prüft in Verbrauchs- und Einkommensstichproben, was die unteren 15 Prozent der Einkommensbezieher ausgeben und errechnet daraus den Bedarf für die Hartz-IV-Empfänger. Das Problem: In der geprüften Gruppe sind auch viele Menschen, die eigentlich Anspruch auf Sozialleistungen hätten, diese aber aus Scham nicht beantragen. Wegen der offenbar nicht geringen Anzahl „verdeckter Armer“ falle der Regelsatz für Hartz IV zu niedrig aus, meinen Kritiker. Er müsste beispielsweise nach Berechnungen der Caritas rund 80 Euro höher liegen. Hierin sehen manche auch eine Erklärung dafür, dass es lange Schlangen an den Tafeln gibt. Das Gratisangebot erspart den Gang in den Supermarkt und schont das schmale Hartz-Budget. Der 416-Euro-Regelsatz umfasst unter anderem etwa 145 Euro für Nahrung, 37 Euro für Telefon und Internet oder 40 Euro für Freizeit, Unterhaltung und Kultur. Dass Hartz IV nicht höher ausfällt, hat verschiedene Gründe. Der ursprüngliche Gedanke war, ein Hilfssystem zu schaffen, dessen Regelsatz so berechnet wird, dass er nur vorübergehend zum Leben reichen soll. Es soll niemand auf den Gedanken kommen, sich auf Dauer als Hartz-IV-Bezieher dem Arbeitsmarkt entziehen zu können. Das Prinzip lautet: Wer arbeitet, soll mehr davon haben, als wenn er nicht arbeitet. Daher formuliert die Bundesregierung ihre Maxime so: „Es richten sich alle unsere Anstrengungen darauf, die Hilfsbedürftigkeit der Menschen zu beenden und den Anschluss ans Arbeitsleben herzustellen“, wie es die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im vorigen September formulierte. Doch jenseits der Debatte über die Höhe der Regelsätze liegt hier das größere Problem. Ein Blick auf die Statistik: Von den sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern bezieht jeder zweite die Sozialleistung schon vier Jahre oder länger. Rund zwei Millionen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Hartz IV ist für viele also kein kurzer Lebensabschnitt, und nicht wenige beginnen die Zeit nach der Schule nicht mit selbst verdientem Geld, sondern mit staatlichen Transferleistungen. Die Arbeitsagenturen wissen, dass viele „Hartzer“ nicht vermittelt werden können, weil sie einen Acht-Stunden-Arbeitstag nicht durchhalten. Sie haben eine Vielzahl von Problemen körperlicher oder psychischer Art, sind schlecht oder gar nicht ausgebildet, und manche wollen nicht zur Arbeit gehen. Besonders bitter ist die Situation für Alleinerziehende, die gerne arbeiten würden. Sie können aber nicht, weil es zu den nächtlichen Arbeitszeiten im Krankenhaus, bei der Gebäudereinigung oder in der Gastronomie keine Betreuungsangebote für ihre Kinder gibt. Mit einem Hinweis auf genau diese Problematik hat jetzt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die von Spahn ausgelöste Diskussion eingegriffen. „Unser Ziel muss höher gesteckt sein, als dass die Menschen von Hartz IV oder anderen Transferleistungen leben“, sagte Steinmeier. Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müsse sich darauf konzentrieren, Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Wie also können Betroffene wieder am Erwerbsleben teilnehmen? Wie werden Bürger davor bewahrt, überhaupt auf das Hilfssystem angewiesen zu sein? Einen Beitrag zu diesen Fragen bleibt Jens Spahn schuldig.

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