Interview „Freundschaft kann der Krieg nicht zerstören“

Vorweihnachtszeit in Haifa. Juden und Muslime feiern mit. Dieses Foto entstand 2019.
Vorweihnachtszeit in Haifa. Juden und Muslime feiern mit. Dieses Foto entstand 2019.

Am Leo Baeck Center Haifa lernen jüdische und arabische Kinder miteinander. Zwei Lehrer schildern, wie der Hamas-Überfall ihr Leben und das ihrer Schüler verändert hat.

Haifa, die Stadt in der Sie leben und arbeiten, ist anders als viele Städte in Israel. Und Ihre Schule ist auch anders. Worin liegen die Unterschiede?
Marc Hermann-Cohen: In Haifa leben Araber und Juden schon lange relativ friedlich miteinander. Es gibt viele Kontakte, privat wie auch über verschiedene Institutionen und Organisationen. So kamen kürzlich 50 religiöse Führer aus den unterschiedlichen Religionen – darunter Juden, Muslime, Christen, Drusen, Bahai –, um die Angriffe der Hamas zu verurteilen und gemeinsam mit unserer Rabbinerin Oshrat Morag ein Friedensgebet zu sprechen.

Yonathan Bar-On: Unsere Schule ist etwas ganz Besonderes. Toleranz, Koexistenz und Friedenserziehung sind hier sehr wichtig. Wir haben gerade mit unseren Schülerinnen und Schülern die englische Ausgabe eines ursprünglich holländischen Kinderbuchs, bei dem es um genau diese Werte geht, unter anderem ins Hebräische und Arabische übersetzt. Unsere jungen Leute werden nun raus gehen in die Grundschulen von Haifa, um mit den Kindern das Buch, das in einer kleinen Auflage gedruckt wird, zu lesen und Aktivitäten rund um die Themen des Buches durchzuführen.

Hat sich die Atmosphäre in Haifa seit dem Hamas-Überfall verändert?
Hermann-Cohen: Die Beziehungen zwischen Arabern und Juden sind sehr komplex, der Krieg macht die Sache nicht einfacher. Einerseits kämpfen israelische Araber und Juden Seite an Seite, um ihr Land und alle Einwohner Israels zu verteidigen. Andererseits gab es in den sozialen Medien zum Beispiel Boykottaufrufe gegen ein arabisches Hummus-Lokal, von dem bekannt wurde, dass es die Armee beliefert. Allerdings haben dann auch viele gerade erst recht dort eingekauft. Die Bruchlinien zwischen Arabern und Juden haben sich vertieft, das ist sicher.

Herr Bar-On, Herr Hermann-Cohen, Sie sind beide ja nicht in Israel geboren und aufgewachsen. Was verbindet Sie mit diesem Land?
Bar-On: 1991 bin ich das erste Mal und nur für einen Monat nach Israel in einen Kibbuz gekommen und habe mich in das Land verliebt. Dieser Kibbuz ist übrigens einer derjenigen, die von der Hamas überfallen wurden. Ich kann das immer noch nicht fassen.

Geboren bin ich in einer evangelischen Familie in den Niederlanden. Als Kind begann ich mich für das Judentum zu interessieren und als Teenager verliebte ich mich in die hebräische Sprache. Ich habe in Amsterdam semitische Sprachen studiert, vor allem Arabisch und Hebräisch. Seit 1992 lebe ich in Israel, habe hier geheiratet und mit meiner Frau drei Kinder bekommen. 1994 bin ich zum Judentum konvertiert und habe dann auch freiwillig Armeedienst geleistet.

Hermann-Cohen: Ich bin gebürtiger Hamburger und lebe seit 2014 als Doppelstaatler in Israel. Ich bin mit meinem Mann hierher gekommen, der Israeli ist. Israel ist definitiv meine zweite Heimat, der Hamas-Terror hat mich daher tief getroffen. Meine Schwägerin zum Beispiel lebt mit ihrer Familie in der Nähe des Gazastreifens. Zum Glück war sie am 7. Oktober nicht zuhause. Ich war an diesem Tag bei meiner Familie in Hamburg zu Besuch und konnte erst etwa einen Monat später nach Haifa zu meinem Mann und meinem 15-jährigen Sohn zurückkehren, da immer noch Raketen von Gaza aus auf die Dörfer geschossen werden. Einige unserer Freunde, die in der Nähe von Gaza gelebt haben, sind tot.

Wie haben der Hamas-Überfall und der Krieg in Gaza das Leben an ihrer Schule verändert?
Bar-On: Zunächst wurden am Schwarzen Samstag, dem 7. Oktober, drei ehemalige Schüler ermordet: Yonathan Ben Tzvi (49), Itay Benjo (30) und Shani Kupervaser (28). Shani war Schülerin in der ersten Klasse, die ich je unterrichtet habe. Mehrere Lehrer und viele ehemalige Schüler sind jetzt in der Armee, entweder als Wehrpflichtige oder im Reservedienst. Was unsere reguläre Schularbeit betrifft: Die ersten Tage haben wir nur Online-Unterricht gemacht. Danach wurden die Klassen wechselweise wieder vor Ort unterrichtet.

Hermann-Cohen: Das hängt mit der Kapazität der Bunker in unserer Schule zusammen. Wir durften nur so viele Kinder in Präsenz unterrichten, wie im Notfall in weniger als einer Minute einen Platz im Schutzraum erreichen können. Wenn wir hier in Haifa vom Libanon aus, also von der Hisbollah, angegriffen werden, ist die Vorwarnzeit extrem kurz. Kommen die Raketen aus Gaza, haben wir etwas mehr Zeit.

Bar-On: Inzwischen sind alle Schüler wieder vor Ort, obwohl die Gefahr ja nicht geringer geworden ist. Aber die Behörden haben es so entschieden. Warum auch immer.

Und wie gehen die Schüler mit dem Konflikt, der Bedrohung um?
Bar-On: Wir sind ja eine der wenigen Schulen in Israel, die ganz bewusst religiöse Toleranz vermitteln wollen. Etwa zehn Prozent unserer Schülerinnen und Schüler sind Nicht-Juden, also muslimische oder christliche Araber, Drusen oder Angehörige anderer Minderheiten. Da besteht viel Redebedarf zur Zeit. Und die Klassenlehrerinnen und -lehrer nehmen sich dafür auch Zeit. Außerdem haben wir Schulpsychologen, die sich um Schüler und Lehrer kümmern. Denn alle, Schüler wie Lehrer, sind derzeit extrem gestresst und dünnhäutig. Wir empfehlen den Schülern, die Hamas-Videos auf keinen Fall anzuschauen. Die sind unerträglich und traumatisierend.

An unserer Schule sind Kinder und Jugendliche der verschiedenen Religionen täglich zusammen. Diese Freundschaften kann Krieg glücklicherweise nicht so einfach zerstören. Sich kennen zu lernen, zu erfahren, dass der andere auch nicht so viel anders ist als man selbst, ist meiner Ansicht nach der beste, vielleicht sogar einzige Weg hin zu Toleranz und friedlichem Zusammenleben.

Kennenlernen ist ein gutes Stichwort. Das Leo Baeck Education Center pflegt seit 2007 einen Austausch mit dem Lessing-Gymnasium in Mannheim. Erst Corona, jetzt Krieg: Wann kann denn der Schüleraustausch wieder vollständig aufgenommen werden?
Bar-On: Im Februar waren endlich wieder Mannheimer Schülerinnen und Schüler bei uns in Haifa. Normalerweise wären wir im Dezember nach Mannheim gekommen. Das wird wohl leider nicht klappen. Aber ich hoffe auf das kommende Jahr. Denn nirgendwo kann man so gut Vorurteile und Stereotype abbauen wie mit Austauschprogrammen. Für viele Schüler und Lehrer, die ich beim Unterricht an unseren Austauschschulen in Mannheim und Stuttgart getroffen habe, war ich der erste Jude, den sie kennenlernten.

Es zeigt sich auch in Deutschland fast täglich, dass Antisemitismus leider nicht der Vergangenheit angehört. Wie geht es Ihnen damit?
Hermann-Cohen: Nun ist klar, dass Deutschland, ja ganz Europa, schon immer ein Problem mit Judenfeindlichkeit hatte. Es wurde nur ignoriert. Jetzt reagiert mal ziemlich hilflos. In Hamburg wurden die Schulen nach dem Angriff angewiesen, den Konflikt zu thematisieren. Aber kaum einer sagte den Lehrkräften, wie sie das machen sollten. Da haben viele lieber gar nichts unternommen, um nicht die Büchse der Pandora zu öffnen.

Ihre Heimat wird auf absehbare Zeit wohl nicht zur Ruhe kommen. Wie fühlen Sie sich, so mitten im Krieg?
Hermann-Cohen: Das ist zweifellos eine Zäsur in der israelischen Geschichte. Wir haben alle unser Gefühl der Sicherheit verloren. Viele Menschen haben jetzt regelrecht Existenzangst. Gleichzeitig rücken die Menschen auch näher zusammen.

Bar-On: Ich habe mich immer für den Ausgleich mit den Arabern eingesetzt, als Lehrer und Journalist. Ich bin Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung. Nach dem Krieg müssen wir doch irgendwie wieder zusammenleben und einen Ausweg aus diesem schrecklichen Schlamassel finden. Das wird jetzt noch schwieriger – aber wie wir sagen, „Eyn Brera“, wir haben keine Wahl.

Stichwort Leo Baeck Education Center in Haifa

Das Leo Baeck Education Center Haifa ist eine interkulturelle Einrichtung, zu der unter anderem eine Kita, eine Schule, die bis zum Hochschulabschluss führt, und verschiedene Angebote der außerschulischen Bildung – auch für Erwachsene – gehören. Hier treffen sich Angehörige unterschiedlicher religiöser, sozialer und ethnischer Gruppen, so auch jugendliche Migranten aus den ehemaligen Sowjetstaaten und aus Nordafrika. Ziel ist die Erziehung zu Frieden und konfliktfreiem Zusammenleben von Arabern und Juden. Die Einrichtung trägt den Namen des Frankfurter Rabbiners Leo Baeck (1873–1956), eines Vertreters des liberalen Reformjudentums. Die Wurzeln der Bildungseinrichtung, die mehr als 2500 Schülerinnen und Schüler besuchen, liegen in einer kleinen Kindergartengruppe für Waisenkinder, die deutsche Emigranten im Jahr 1938 gründeten.

Gemeinsam lernen, gemeinsam Sport machen. Hier kommen Kinder verschiedener Religionen zusammen.
Gemeinsam lernen, gemeinsam Sport machen. Hier kommen Kinder verschiedener Religionen zusammen.
Yonathan Bar-On (55) unterrichtet Englisch.
Yonathan Bar-On (55) unterrichtet Englisch.
Marc Hermann-Cohen (39) leitet die deutsche Abteilung des Leo Baeck Education Center.
Marc Hermann-Cohen (39) leitet die deutsche Abteilung des Leo Baeck Education Center.
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