Politik Das ist Helmut Kohls Vermächtnis

Obwohl sie unterschiedlichen politischen Lagern angehörten, waren der deutsche Kanzler Helmut Kohl und der französische Präsiden
Obwohl sie unterschiedlichen politischen Lagern angehörten, waren der deutsche Kanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand (hier beim Weltwirtschaftsgipfel 1988 in Toronto) mehr als Partner.

Helmut Kohl hat die Außenpolitik Deutschlands und die Politik Europas geprägt wie kein Zweiter. So wurde er auch zum maßgeblichen Gestalter internationaler Politik. Was bleibt von seinem Vermächtnis, was davon wird

von der globalen Entwicklung überholt?

Entschlossen zugepackt

Helmut Kohl hat die Konstanten der deutschen Außenpolitik so etabliert, dass sie unumkehrbar wurden. Damit hat er die Welt verändert. Seine Absicht war das nicht. Er wollte nur Deutschland zur respektierten, verlässlichen Stimme in Europa und der Welt machen. Denn das würde letztlich den deutschen Interessen dienen. Als sich aber für einen kurzen Moment der Geschichte die Chance bot, Deutschland wiederzuvereinigen und den Kalten Krieg zwischen Ost und West zu beenden, hat er entschlossen zugepackt. Die Grundlagen dazu hatte er zuvor mit seiner Außenpolitik selbst geschaffen.

Europa zu einen und institutionell zu organisieren

Man muss sich das vorstellen: Das kleine Europa ist ja nur ein Wurmfortsatz des riesigen asiatischen Kontinents. Angesichts seiner Kleinheit und seiner Verheerung nach dem Zweiten Weltkrieg schien es nicht unwahrscheinlich, dass Europa unbedeutend und an den Rand des Weltgeschehens geraten würde. Vor allem die USA verhinderten das. Großbritannien und Frankreich machten sich mit Geschick machtpolitisch größer als sie es eigentlich sind. Die formidable Idee, Europa zu einen und auch institutionell zu organisieren, rettete langfristig den globalen Einfluss des alten Kontinents. Fast wie ein Phönix aus der Asche erhob sich Europa aus den Trümmern des Weltkrieges.

Deutschland überwand die Schmach

Deutschland war zugleich Antreiber und größter Profiteur dieses Wiederaufstiegs. Im Dritten Reich hatte es fast die ganze Welt in den Abgrund gestürzt. 1945 war es geächtet. Doch dank seiner exponierten Lage im Herzen Europas, direkt am „Eisernen Vorhang“ , dank des Fleißes und Könnens seiner Bürger und dank einer klugen Außenpolitik überwand Deutschland die Schmach und wurde eine maßgebliche Stimme Europas.

Adenauer setzt die Pfeiler der Außenpolitik

Konrad Adenauer (CDU), der erste Kanzler der Bundesrepublik (1949 bis 1963), hat die Pfeiler deutscher Außenpolitik gesetzt: die Freundschaft mit Frankreich, die Westbindung an USA und Nato, die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Aussöhnung mit Israel. Willy Brandt (SPD, Kanzler von 1969 bis 1974) hat den fehlenden tragenden Pfeiler hinzugefügt: die Annäherung an die Sowjetunion und die osteuropäischen Staaten, einschließlich der DDR.

Kohl stellt außenpolitisches Erbe nicht in Frage

Helmut Kohl hat auf diesen Pfeilern ein deutsches Haus gebaut. Es sollte ein europäisches Haus mit einer großen deutschen Wohnung darin werden. Der Pfälzer hat das außenpolitische Erbe seiner Vorgänger, trotz so mancher parteipolitischen Ranküne, niemals in Frage gestellt. Im Gegenteil: Brandts Ostpolitik hielt er für richtig und setzte das in seiner CDU auch gegen heftigen Widerstand durch. Der alte Brandt und der Kanzler der Einheit hegten zuletzt großen Respekt füreinander.

Kohls Prinzipientreue zahlt sich aus

Kohl dachte immer in Zusammenhängen: Europäische Einigung und deutsche Wiedervereinigung sind zwei Seiten derselben Medaille, wiederholte er oft Adenauers Maxime und hielt so an einer europäisch eingebetteten deutschen Wiedervereinigung fest – selbst dann noch, als kaum noch jemand an sie glaubte. 1989 zahlte sich Kohls Prinzipientreue aus.

Eine Konstante der Europapolitik

16 Jahre lang, bis 1998, blieb Kohl Kanzler, länger als jeder andere Präsident oder Regierungschef in Westeuropa. Er war eine Konstante in der Europapolitik. Jeder wusste, dass er an den Pfeilern deutscher Außenpolitik festhielt. Er galt als verlässlich, selbst wenn die Interessenunterschiede groß waren. Das hing mit zwei anderen Prinzipien seines außenpolitischen Verständnisses zusammen:

  1. Große Staaten dürfen kleine Staaten nicht übertrumpfen. Deshalb waren Kohl zum Beispiel gute Beziehungen zu den kleinen Nachbarn Deutschlands, also Luxemburg, Belgien, Niederlande, Dänemark, Tschechische Republik, Österreich und Schweiz, so wichtig. Deutschland und Frankreich sollten die Lokomotive der EU sein, nicht deren Direktorium. Auch in der Nato und in den Vereinten Nationen unterschied Kohl nicht grundsätzlich zwischen großen und kleinen Staaten. Er war der erste „Reisekanzler“, unterwegs in Asien, Lateinamerika und Afrika.

  2. Gute persönliche Beziehungen zwischen Staatschefs erleichtern es, gute Beziehungen zwischen den Staaten herzustellen. Kohl war ein Meister darin, ein Vertrauensverhältnis mit anderen Regierungschefs aufzubauen. Er und Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher (1979 bis 1990) waren wie Feuer und Wasser. Aber er respektierte sie, lud sie zu sich in die Pfalz ein, brach im Verein mit US-Präsident George W. Bush senior (1989 bis 1993) und EU-Kommissionspräsident Jacques Delors (1985 bis 1995) ihren Widerstand gegen die deutsche Einheit.

Cinton wurde zum Bewunderer Kohls

Der so bedeutende Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974 bis 1982) hielt von US-Präsident Jimmy Carter wenig und ließ den das spüren. Kohl agierte anders: Im US-Wahlkampf 1993 hatte er sich zum Erstaunen vieler unverblümt für die Wiederwahl Bushs ausgesprochen. Aber Bill Clinton (1993 bis 2001) wurde gewählt. Kohl fuhr zum Antrittsbesuch zu ihm, begründete ihm ohne Umschweife seinen Einsatz für Bush. Clinton wurde zum großen Bewunderer Kohls.

Freundschaft mit Mitterand

Eine der erstaunlichsten und zugleich ertragreichsten politischen Männerfreundschaften ist jene zwischen Kohl und Frankreichs Präsident François Mitterrand (1981 bis 1995). Unterschiedlicher in Lebensstil, Interessen und (innen-)politischen Ansichten konnten zwei Personen kaum sein. Dennoch entwickelte sich zwischen beiden eine tiefe Freundschaft, die auch große Konflikte aushielt. Eine ähnlich ungewöhnliche Freundschaft hat es nur zwischen zwei anderen Staatsmännern – ebenfalls aus Deutschland und Frankreich – gegeben: die zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle (1944 bis 1946 und 1959 bis 1969).

Fehleinschätzung bei Gorbatschow

Kohls personenbezogener Politikansatz war nicht von Fehleinschätzungen frei. Völlig falsch war sein Vergleich des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow (1985 bis 1991) mit Joseph Goebbels, dem Reichspropagandaminister Hitlers. Kohl nahm diesen Vergleich uneingeschränkt zurück. Die zwischen ihm und Gorbatschow entstandene Freundschaft ist legendär.

Hart gegen innerparteiliche Kritiker

Wie sehr Kohls personenbezogene Diplomatie im Dienste der deutschen Außenpolitik stand, kann man daran erkennen, dass der überaus machtbewusste Pfälzer innen- und parteipolitisch ganz anders vorging. Da scheute er nicht davor zurück, politische Gegner und innerparteiliche Kritiker hart anzugehen, sie auszugrenzen, ja sogar zu schikanieren.

Respekt für die Geschichte anderer Staaten

Die Grundpfeiler deutscher Außenpolitik und die beiden Prinzipien Kohls, kleine Staaten nicht zu dominieren sowie gute persönliche Beziehungen zu anderen Staatschefs zu pflegen, haben sowohl Kanzler Gerhard Schröder (1998 bis 2005) wie auch Kanzlerin Angela Merkel (seit 2005) sich zu eigen gemacht. Wenngleich das zum Beispiel US-Präsident George W. Bush junior (2000 bis 2009) Schröder und Russlands Präsident Wladimir Putin (2000 bis 2008 und seit 2012) Merkel nicht leicht gemacht haben. Ein drittes außenpolitisches Prinzip Kohls, nämlich mit Respekt für die Geschichte und die Traditionen anderer Staaten zu handeln, spielt heute weltweit in der Diplomatie eine nachlassende Rolle. Wie problematisch das sein kann, beobachtet man gegenwärtig am Regierungshandeln von US-Präsident Donald Trump.

Kohls Staatskunst

Die von Adenauer, Brandt und Kohl gesetzten Pfeiler deutscher Außenpolitik gehören längst zur Staatsraison der Bundesrepublik und Helmut Kohls Staatskunst in der Diplomatie wird Vorbild für deutsche Kanzler bleiben. Andererseits hat sich die Welt so verändert, dass manches an Kohls Vermächtnis ins Wanken gerät:

  1. Der fünfte deutsche Bundeskanzler wollte den Prozess der Einigung Europas unumkehrbar machen. Spätestens mit dem mit knapper Bürger-Mehrheit beschlossenen Ausstieg Großbritanniens aus der EU ist aber der Einigungsprozess wieder reversibel. Kohl war von der kontinentalen Bestimmung des Königreichs überzeugt. Das aber ist jetzt gespalten und auf Jahre hinaus vor allem mit sich selbst beschäftigt. Großbritannien hat sich ohne Not geschwächt. Einmal mehr wird darin die Fragwürdigkeit von Volksentscheiden deutlich.

  2. Kohl verstand die EU immer auch als Werte- und Rechtsgemeinschaft. Deshalb hat er die Osterweiterung vorangetrieben. Derzeit aber verabschieden sich Ungarn und Polen aus dieser Gemeinschaft und die EU hat nur wenige Gegenmittel. Folgen weitere Staaten dem Beispiel Ungarns und Polens, wankt die EU gewaltig.

  3. Für Kohl standen die EU und die westliche Allianz in engem Zusammenhang. Trumps „America first“- Strategie schwächt den Westen schon jetzt. Sie wird aber auch für die USA das Gegenteil dessen bewirken, was Trump erreichen will: Amerika verliert bereits international an Einfluss und mittelfristig wird Trumps Abschottungskurs die USA im Innern weiter spalten und ihr wirtschaftlich schaden. China und Russland sind die Profiteure des Trumpschen Nationalegoismus.

  4. Eine demokratische Großmacht mit westlichen Werten zieht sich zurück. Zwei vordemokratische Autokratien werden zu Großmächten. Das verheißt nichts Gutes. Die Befriedung des Nahen Ostens etwa, des gefährlichsten Brandherdes weltweit, dazu noch unmittelbar vor den Toren Europas, wird noch schwieriger. Zeitgleich entfernt sich die Türkei von Europa und der Demokratie. Nie seit Ende des Kalten Krieges hat das geeinte Europa so unter Druck gestanden wie heute.

Zerfall der EU aufhalten

Helmut Kohl hat die Welt richtungweisend verändert. Jetzt aber sind Weltveränderer rückwärtsgewandt am Werk. Eine Hoffnung bleibt: Frankreich ist mit seinem Präsidenten Emmanuel Macron und dessen Reformagenda zurück auf der Bühne der internationalen Politik. Gemeinsam müssen Frankreich und Deutschland den Zerfall der EU aufhalten. Damit Europa den rückwärtsgewandten Weltveränderern Paroli bieten kann.

x