Politik Augen zu und durch

Als sie um halb vier Uhr früh am Freitagmorgen in ihrem Wahlkreis Maidenhead eintrifft, ist ihre Miene wie versteinert. Theresa May weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie ihren eigenen Unterhaussitz locker halten wird. Aber das politische Glücksspiel der Premierministerin, vorgezogene Neuwahlen auszurufen, um ihre Mehrheit im Parlament auszubauen, ist auf ganzer Linie fehlgeschlagen. May hat sich schlicht und einfach verzockt. Kein Wunder, dass der Schock ihr ins Gesicht geschrieben steht. Sie blinzelt nervös. Theresa May setzt zu einer kurzen Rede an, ihre Stimme klingt brüchig. Dann fasst sie sich wieder. „In diesen Zeiten“, sagt sie, „braucht das Land mehr als alles andere eine Periode der Stabilität. Wenn die Konservativen die meisten Sitze und die meisten Stimmen gewonnen haben, obliegt es uns, sicher zu stellen, diese Phase der Stabilität zu bekommen, und das ist es, was wir tun werden.“ Viele ungelenke Worte, um eines zu sagen: Die Konservative Partei will weiterhin die Regierung stellen. Aufgeregte Fragen von Journalisten, ob sie selbst zurücktreten wird, ignoriert die Premierministerin. Im Laufe des Vormittags wird ein zuvor geplantes Statement von Theresa May abgesagt. Spekulationen, ob die Premierministerin hinter den Kulissen von Parteikollegen zum Rücktritt gedrängt wird, schießen ins Kraut. Dann lässt Downing Street verlauten: Theresa May wird die Queen am frühen Freitagnachmittag aufsuchen und Elizabeth II. bitten, eine Regierung bilden zu dürfen. Damit ist klar: May will trotz der Schlappe im Amt bleiben. Als die Premierministerin von der Audienz mit der Queen zurückkommt, wirkt sie wieder so gefasst und resolut, wie man das bei ihren Ansprachen gewohnt ist. Im königsblauen Kostüm tritt May ans Rednerpult, das vor die Tür zu Number 10 Downing Street gestellt wurde, und wendet sich ans Volk. „Ich werde eine Regierung bilden“, sagte sie, „die das Land durch diese schwierigen Zeiten und durch die kritischen Brexit-Verhandlungen führt, die in nur zehn Tagen beginnen.“ Man werde, sagte May, „mit unseren Freunden und Alliierten in der Democratic Unionist Party im besonderen zusammenarbeiten. Lasst uns an die Arbeit gehen!“ Damit ist klar: Es soll eine Minderheitsregierung werden. Schon am Abend zuvor, kurz nach der Veröffentlichung der ersten Hochrechnung, hatten die Vertrauten von May erste Fühler ausgestreckt und Politiker der „Democratic Unionist Party“ (DUP) kontaktiert. Die DUP hat in Nordirland zehn Mandate gewinnen können. Zusammen mit den 318 Sitzen der Konservative würde es gerade reichen, dass eine Regierung im Parlament nicht abgewählt werden kann – die magische Grenze liegt bei 326 Sitzen. Dabei soll es aber zu keiner formellen Koalition zwischen DUP und Konservativen kommen, sondern zu einer Duldungsvereinbarung: Die DUP unterstützt die Regierung in den entscheidenden parlamentarischen Abstimmungen zum Regierungsprogramm und zum Haushalt und bekommt im Gegenzug Zugeständnisse. Wie sollen die aussehen? Darüber muss in den nächsten Tagen verhandelt werden, aber es dürfte auf mehr Geld für die Provinz hinauslaufen und auf ein Mitspracherecht bei den Brexit-Verhandlungen. Denn die DUP tritt für einen Verbleib Nordirlands in der Zollunion ein, um zu verhindern, dass es zu einer harten Grenze zwischen der Provinz und dem EU-Mitglied Irland im Südteil der Insel kommt. Das könnte bedeuten, dass der Brexit ein Stück weicher ausfallen könnte, als es Theresa May zuvor angekündigt hatte. Das Bündnis in Westminster könnte auch Auswirkungen auf die nordirische Regionalregierung in Belfast haben, wo sich Sinn Fein und die DUP seit 2007 die Macht teilen. Sinn-Fein-Chef Gerry Adams erklärte gestern Abend, ein Referendum über die Einheit der Grünen Insel sei unvermeidbar. „Ich kann nicht sagen, wann, aber es wird eins geben“, so Adams. Labour-Chef Jeremy Corbyn hofft derweil, selbst eine Minderheitsregierung auf die Beine zu stellen, sollte May eine Vertrauensabstimmung verlieren. Eine informelle Allianz aus Labour, Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten von der SNP wäre allerdings brüchig und hätte nicht genug Mandate für eine stabile Mehrheit. Corbyn fühlt sich zurecht im Aufwind. Er wird nicht müde werden, nach dem Rücktritt von May zu rufen. Er hat einen hervorragenden Wahlkampf hinter sich. Anfangs als unbeholfen und taktisch ungeschickt auftretender Politiker belächelt, hat sich Corbyn über die letzten sieben Wochen gemausert. Besonders sein Versprechen, die Studiengebühren abzuschaffen, hat zu einer Mobilisierung der Jungwähler geführt. Vielleicht bekommt Corbyn doch eine Chance. Die ungeschriebene britische Verfassung gebietet, dass dem Oppositionsführer die Chance einer Regierungsbildung eingeräumt wird, bevor es zu Neuwahlen kommt. In diesem Fall sähen sich die Briten einer vierten nationalen Abstimmung in drei Jahren gegenüber. „Britische Politik“, scherzte ein langjähriger Beobachter, „wird immer mehr wie italienische Politik. Aber ohne das gute Wetter. Oder den Sex.“

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