Essay Alle Farben: Die Demokratie kann allen Heimat sein

Wie die Buntstifte im Schülermäppchen sind die Farben der Demokratie vielfältig. Und das ist gut so.
Wie die Buntstifte im Schülermäppchen sind die Farben der Demokratie vielfältig. Und das ist gut so.

Die Sehnsucht der Deutschen nach Eindeutigkeit ist groß. Kompromisse? Anstrengend! Doch nur wer mit sich selbst verhandelt, verhindert das Gefühl, politisch heimatlos zu sein.

Heimat ist per se eine vielschichtige Angelegenheit. Sie ist mal ein Ort, mal ein Gefühl, mal eine Gemeinschaft. Menschen suchen sie und finden sie. Verlieren sie und haben Sehnsucht nach ihr. Tragen sie im Herzen und werden wehmütig, wenn sie an sie denken. Spüren Wut. Oder Mut. Power. Oder Trauer.

Heimat gibt zu denken. Über Vergangenes. Über Künftiges. Heimat bedeutet Geborgenheit. Oder Überforderung. Heimat ist selten egal, gar trivial. Heimat ist, was sie ist. Und was sie ist, verändert sich. Weil sich Umstände und damit Perspektiven verändern. Was ist wichtig? Was zählt? Wer innere Heimat sucht, tritt im Laufe seines Lebens mit sich in Verhandlung. Es geht dann ums große Ganze.

Wofür stehe ich?

„Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und Schriftsteller Axel Hacke haben 2011 der Veränderung ihrer inneren Heimat ein Buch gewidmet. Auf 240 Seiten beschreiben die Freunde, wie sie ergründeten, wofür sie stehen. Waren sie als Heranwachsende noch Idealisten, schliff das Leben jede Eindeutigkeit ab. Bis sie vor lauter Realismus nicht mehr wussten, wo ihre politische Heimat lag. Sie nahmen den Schmerz der Veränderung an, setzten sich eine neue Heimat zusammen, lernten den Kompromiss schätzen, einigten sich mit sich selbst auf Grundsätzliches – und ließen Nuancen in ihr Leben. Ihr inneres Farbspektrum wuchs.

Das Farbspektrum der politischen Landschaft dieses Landes wächst ebenfalls. Wähler haben zusätzliche Alternativen. Solche, die den Kompromiss wertschätzen und Nuancen als Bereicherung sehen. Solche, die am liebsten allein entscheiden möchten, was Heimat ist, wer Heimat erleben darf und wer ihre Heimat möglichst verlassen soll. Der Kompromiss jedenfalls hat bessere Zeiten erlebt. Von der Königsdisziplin des demokratischen Interessensausgleichs ist er für viele zum Merkmal einer vermeintlichen Einheitspolitik geworden.

Die Zeiten sind wie gemalt für Akteure, die die Welt nur schwarz oder weiß zeichnen. Wem ohnehin alles zu komplex ist, dem kommt ein zweifarbiges Farbspektrum ob seiner Einfach- und Klarheit gelegen.

Das Problem dabei ist: Die Welt ist nicht nur schwarz oder weiß. Sie ist vielmehr kunterbunt, sie erfordert Differenzierung. Abwägung. Priorisierung. Abstrahierung. Menschen müssen für sich klären, was grundsätzlich ist und was verhandelbar. Für Schwarz oder Weiß stehen nur die schlechten Alternativen.

Komplexe Zeiten

Die an vermeintliche Einfachheit Geketteten verharren in Denkmustern, schaffen es nicht, ihren Heimatbegriff zu erweitern, fühlen sich einer inneren Eindeutigkeit beraubt, die es im Äußeren nie gab. Wer das Abwägen überspringen möchte, wählt entweder gar nicht – so wie vier von zehn rheinland-pfälzischen Wahlberechtigten bei der Kommunalwahl 2019. Oder er macht sein Kreuz bei Populisten, die vorgeben, die „eine Wahrheit“ zu kennen. Die gibt es aber nicht. Die Zeiten sind komplex. Gewissheiten sind dahin. Menschen sehnen sich zurück in eine Zeit, in der ein verpflichtender Kassenbon an einer Bäckereitüte unser größtes Problem zu sein schien. Im Rückblick erscheint manche Diskussion lächerlich im Angesicht von Pandemien, Kriegen und Zukunftssorgen. Die gab es übrigens auch schon vor 2020. Nur haben sie in den Jahrzehnten zuvor nicht so sehr unsere Heimat, sondern die Heimat der anderen erschüttert, anderswo.

Menschen verändern sich – und mit ihnen ihr Blick auf Heimat. Wir können die Kneipen von damals aus Überzeugung nostalgisch-begeistert aufsuchen. Wir können sie aber auch aus Mangel an Alternativen verdrossen-gelangweilt betreten. Die Kühe auf der Weide mögen den genehmen Soundtrack zum Picknick im Garten liefern. Oder aber den Schlaf rauben. Die Kellertür im Elternhaus steht vielleicht zwischen dem Romantiker und seinen Jugendschätzen. Vielleicht aber auch zwischen dem Verzweifelten und den Zeugnissen seiner zerplatzten Träume. Heimat kann heute dies und morgen jenes bedeuten. Heimat kann nur finden, wer Heimat Vielschichtigkeit zugesteht. Mit Kompromissen. Nuancen. Und Farben.

Seine Heimat neu definieren

Das gilt ebenso für die politische Heimat. Wer für Atomkraft ist, kann die Außenpolitik der Grünen gut finden. Wer Migration begrenzen möchte, kann die Sozialpolitik der SPD als vernünftig anerkennen. Wer Reiche stärker besteuern will, kann Fan der Aktienrente der FDP sein. Wer die Legalisierung von Cannabis als sinnvoll erachtet, kann die Familienpolitik der CDU unterstützen. Nicht jede Uneinigkeit mit der einen oder anderen Position einer Partei macht politisch heimatlos. Wer erwachsen ist, kann im Kopf weiterwachsen. Denken darf die Richtung wechseln. Demokratie lebt von der Freiheit, irren zu dürfen und sich korrigieren zu können.

Nicht jeder Idealist bleibt Idealist, nicht jeder Realist bleibt Realist. Manchmal kommt das Leben dazwischen. Und eröffnet die Chance, Heimat neu zu definieren.

 

Info

Dieser Artikel stammt aus der RHEINPFALZ am SONNTAG, der Wochenzeitung der RHEINPFALZ. Digital lesen Sie die vollständige Ausgabe bereits samstags im E-Paper in der RHEINPFALZ-App (Android, iOS). Sonntags ab 5 Uhr erhalten Sie dort eine aktualisierte Version mit den Nachrichten vom Samstag aus der Pfalz, Deutschland und der Welt sowie besonders ausführlich vom Sport.

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