LEITARTIKEL Ziel krachend verfehlt

Das Forscherteam beim Vorstellen der Studie.
Das Forscherteam beim Vorstellen der Studie.

Erstmals hat ein unabhängiges Forscherteam sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht. Die Erkenntnisse sind erschütternd.

Vor drei Jahren hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine Forschungsstudie ausgeschrieben – nach wissenschaftlichen Standards, um Unabhängigkeit zu gewährleisten. Mit sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen will man transparent umgehen. Mit dieser Transparenz ist es allerdings nicht sehr weit her. Laut Forscherteam ist durch die Studie nur „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ erkennbar.

Die evangelische Kirche tut sich offensichtlich sehr schwer damit, Missbrauch in den eigenen Reihen bekannt zu machen. Dabei hat die EKD sehr wohl gewusst, auf was sie sich einlässt. Die angewandte Methodik zur Ermittlung von Betroffenen und Beschuldigten war die gleiche wie in der Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche von 2018. Damals hat es die nicht gerade für Transparenz bekannte katholische Kirche geschafft, den Forschern die benötigten Akten bereitzustellen. Rechercheteams, Archivare und Rechtsanwaltskanzleien wurden eingesetzt, um die Daten zusammenzutragen und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Die Notwendigkeit großer Ressourcen war also hinlänglich bekannt. Dennoch hat von den 20 evangelischen Landeskirchen nur eine einzige neben den Disziplinarakten auch die Personalakten an das Forscherteam übermittelt.

Föderaler Aufbau ein Hindernis

Das Ziel einer kompromisslosen Aufklärung von sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland und in der Diakonie wurde – das muss man so deutlich sagen – krachend verfehlt. Eine Ursache dafür liegt im föderalen Aufbau der EKD. Es gibt keine einheitlichen Standards für den Umgang mit Missbrauch. Jede Landeskirche regelt den Umgang mit den Betroffenen selbst – oder eben nicht. Protokolle werden sporadisch oder gar nicht geführt, Vorwürfe werden nicht weiterverfolgt. Auch das muss sich ändern. Nötig sind einheitliche Regelungen für Entschädigungszahlungen. Dabei darf es keine Rolle spielen, an welche Landeskirche man sich wendet.

Aus der Kirche des Wortes muss nun eine Kirche der Tat werden. Die evangelische Kirche sollte ihr Selbstbild kritisch überprüfen. Denn eines ist klar: Missbrauch gibt es nicht nur in der katholischen Kirche. Auch in der evangelischen gibt es Strukturen, die Missbrauch begünstigen.

Der erschütternden Erkenntnis über den Missbrauch in evangelischen Pfarrhäusern und diakonischen Einrichtungen muss eine gründliche Aufarbeitung folgen. Dazu gehört aber auch, erst einmal zu wissen, wie viele Betroffene und Beschuldigte es überhaupt gibt.

Unsichere Datenlage

Die Studie geht von mindestens 2225 betroffenen Kindern und Jugendlichen und 1259 mutmaßlichen Tätern aus. Spekulative Hochrechnungen, die mit großer Vorsicht betrachtet werden müssen, nennen 9355 Betroffene bei 3497 Beschuldigten. Es ist schlimm genug, dass aufgrund der ungenügenden Datenlage mit solchen Zahlen jongliert werden muss. Für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist dies ein Schlag ins Gesicht. Denn eines muss klar sein: Hinter den Zahlen stehen ein menschliche Schicksale, Biografien, die radikale Einschnitte erfahren haben.

Die Studie zeigt, dass die Kirchen – katholisch wie evangelisch – transparent mit dem umgehen müssen, was unter ihrem Dach geschah. Das schulden sie nicht nur den Betroffenen, sondern allen Gläubigen, wenn sie nicht noch mehr an Glaubwürdigkeit einbüßen wollen. Die Chance, radikal offenzulegen, was in der Vergangenheit passiert ist, um es dann aufarbeiten zu können, hatte die EKD mit der Forschungsstudie. Leider hat sie diese Chance nicht genutzt.

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