Leitartikel Politikern fehlt Zeit – die Demokratie leidet

Die Corona-Zeit war Maskenzeit. Politiker standen unter großem Entscheidungsdruck.
Die Corona-Zeit war Maskenzeit. Politiker standen unter großem Entscheidungsdruck.

Demokratien wie Deutschland sind seit Jahren im Krisenmodus. Schnelle Entscheidungen sind gefragt. Doch dabei drohen Vorteile dieser Regierungsform abgeschliffen zu werden.

„Zeit macht nur vor dem Teufel halt“, verkündete Barry Ryan in seinem Hit 1972. Das Problem mit der Zeit, wenn sie davonläuft, haben auch Demokratien. Gerade sie handeln sich leicht Probleme ein, wenn ihre Regierungen unter Zeitdruck geraten. Zu besichtigen ist dies derzeit in Deutschland.

Die Erfahrung, dass plötzlich alles viel schneller gehen muss, hatte sich bereits vor dem Antritt der Ampel eingestellt: mit dem Coronavirus. Im Vollgasmodus mussten lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die Entscheider auf 100-prozentig festem Wissensgrund standen. So kam es zum Ausspruch des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), dass man sich rückblickend wohl vieles werde verzeihen müssen.

Gesetze durchgepeitscht

Auch wenn Corona aus den Nachrichten verschwunden ist: Das Tempo in der Politik hat nicht nachgelassen. Es betrifft nur andere Felder. Zudem treten Krisen zeitgleich auf. Eine davon ist der Ukraine-Krieg. Da stand anfangs der Entschluss, sich von russischer Energie zu lösen. Die Opposition, insbesondere in Gestalt von CDU-/CSU-Politikern, monierte – zu recht –, mit welcher Geschwindigkeit Energiegesetze durchs Parlament gepeitscht wurden. Gleichzeitig nahm die Ampel die andere Großkrise, Klimawandel, ebenfalls in den Blick: Nicht nur weg von russischem Gas und Öl sollte es gehen, sondern auch vom klimaschädlichen Heizen mit fossiler Energie. Die Opposition indes wollte „viel Murks“ in den Gesetzen erkennen.

Dabei sind Demokratien eigentlich deswegen erfolgreich, weil beim Gesetzeschnüren Kompromisse gefunden werden (müssen). Extreme werden so abgeschliffen. Unter dem herrschenden Zeitdruck jedoch schwindet dieser Vorteil. Nicht nur die Opposition, auch viele Bürger haben sich daher jüngst über so manches Gesetz aufgeregt.

Unterschiedliche Zeithorizonte

Ja, früher war meist weniger Hektik, manches wurde einfach ausgesessen. Das ein oder andere Problem löste sich im Lauf der Zeit einfach auf. Manches jedoch nicht – es wurde in die Zukunft verschoben. Heute zeugen davon zerbröselnde Brücken oder eine Energielandschaft, in der die wichtigen Stromleitungen von Nord nach Süd fehlen.

Die früheren Unterlassungen verschärfen nun den Zeitdruck zusätzlich. Richtiggehend gefährlich indes ist, dass in Deutschland, unter dem Druck der Ereignisse, jetzt auch die unterschiedlichen Zeithorizonte von Politik und Wirtschaft in aller Deutlichkeit zu Tage treten. Beispiel Militär: Kanzler Olaf Scholz hat vor zwei Jahren eine „Zeitenwende“ ausgerufen. Doch große Teile der dafür vorgesehenen Mittel sollen erst in Zukunft fließen; die privatwirtschaftlich aufgestellte Rüstungsindustrie aber bräuchte jetzt Geld zum Kapazitätsaufbau.

Gehemmte Investitionen

Beispiel Energie: Bei Investitionen denken Manager hier in Nutzungszeiträumen von zwei oder drei Dekaden. Das Ganze muss sich schließlich finanziell tragen. Aber die amtierende Regierung und wichtige Oppositionsparteien irrlichtern hin und her zwischen verschiedenen Energieformen, inklusive der zu Grabe getragenen Atomkraft. Was nach einem Regierungswechsel passieren würde, weiß niemand. Dies hemmt Investitionen.

Ein Ausweg wäre: Die Parteien der demokratischen Mitte einigen sich darauf, zumindest in den drei Feldern Sicherheit, Energie und Klima zeitweise an einem Strang zu ziehen. Doch dies wird wohl ein Traum bleiben. Denn die Parteienlandschaft zerbröselt gerade – möglicherweise ziehen sieben oder mehr Parteien in den nächsten Bundestag. Und alle sind Konkurrenten.

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