Interview Merkel zu Wagenknecht-Manifest: „Zu viel Personality-Show“

Politologe Wolfgang Merkel
Politologe Wolfgang Merkel

Für Wolfgang Merkel sind Waffenlieferungen gefährlich. Dennoch gehört der Politikwissenschaftler nicht zu den Unterzeichnern der Petition „Manifest für den Frieden“.

Herr Merkel, am Freitag jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine. Wie weit entfernt ist der Frieden?
Ziemlich weit. Ich will auch gar nicht von Frieden sprechen. Es wäre schon ein großer Erfolg, gäbe es Schritte hin zu einem Waffenstillstand angesichts der Tatsache, dass wir bisher wohl ungefähr 250.000 Tote zu beklagen haben. Wenn wir nur in die Nähe von Frieden kommen wollen, dann braucht es intensivere politische und diplomatische Initiativen.

Im April vergangenen Jahres gehörten Sie zu den Unterzeichnern eines von Alice Schwarzer initiierten offenen Briefes an den Kanzler mit dem Appell, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern und sich für Verhandlungen stark zu machen. Schwarzer hat nun gemeinsam mit Sahra Wagenknecht ein „Manifest für den Frieden“ ausgerufen. Den Appell unterstützen erneut zahlreiche Prominente. Sie sind dieses Mal nicht dabei. Warum?
Ich wurde gefragt, habe das aber abgelehnt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens glaube ich, dass man nicht serienweise unterzeichnen sollte, das entwertet im Nachgang die eigene Signatur unter den ersten Brief. Zweitens hätte die Abgrenzung zu den Rechten deutlicher gemacht werden müssen, selbst wenn man nicht verhindern kann, dass die politische Rechte sich parasitär auf alle sich bietenden Trittbretter stellt. Und drittens war mir dieses Mal etwas zu viel Personality-Show dabei.

Können Sie das mit der Personality-Show konkretisieren?
Na ja, die beiden Frauen, die jeweils beachtliche Persönlichkeiten sind und Verdienste haben, haben sich etwas zu sehr vor die Sache gestellt. Das mag PR-Gründe haben, aber PR war mir noch nie sonderlich sympathisch.

Die Bundesregierung hat entschieden, Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern, schon wird über Kampfjets diskutiert. Würde die Lieferung von Flugzeugen den Konflikt merklich verschärfen?
Ob Kampfjets einen kategorialen Unterschied machen würden, wage ich zu bezweifeln. Aber sie haben eine erhebliche Eindringtiefe in russisches Territorium. Das ist der maßgebliche Unterschied zu Panzern. Auf den offensiven Charakter dieser Waffen müsste das Putin-Regime reagieren, sonst verlöre es Glaubwürdigkeit bei den eigenen Soldaten und Bürgern. Das heißt, Kampfjets würden die Eskalation vorantreiben.

Sie haben stets betont, dass das immer weitere Liefern von Waffen eine Verarmung der Regierungskunst und eine erschreckende Absage an Politik überhaupt darstelle. Aber ist es nicht das gute Recht der Ukrainer, sich selbst zu verteidigen? Und ist es als demokratischer Staat nicht unsere Pflicht, sie dabei zu unterstützen?
Natürlich hat die Ukraine ein völkerrechtlich und moralisch verbrieftes Recht, sich zu verteidigen. Russland bricht das Gewaltverbot, die fundamentalste aller fundamentalen Normen des Völkerrechts. Wir, der Westen, haben durchaus eine Pflicht, die Ukraine zu unterstützen, dass sie diesen Krieg nicht verliert. Aber unsere Regierung, die Waffen liefert, hat auch eine demokratische Pflicht gegenüber ihren eigenen Bürgern und Bürgerinnen. „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, …, werde“ heißt es im Amtseid des Bundeskanzlers und seines Kabinetts. In einer Demokratie müssen die Repräsentanten die Sicherheit und Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen. Fahrlässige Eskalationen gehören nicht dazu.

Wenn wir Außenpolitik als den Ausgleich von Interessen betrachten, nicht als moralische Verhaltenstherapie: Was sollten aus Ihrer Sicht die Interessen der Bundesrepublik im Ukraine-Konflikt sein?
Die deutsche Regierung hat eine klare Verpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung, sie muss ihre Sicherheit im Blick haben. Wenn man aber nur eindimensional in Waffen denkt, erhöht es das nukleare Risiko. Das kann nicht deutsches Interesse sein. Ich bezweifle auch, dass es im Interesse der Menschen in der Ukraine ist. Deshalb müssen Waffenlieferungen genau bedacht werden. Sie sind nur dann legitim, wenn der Westen gleichzeitig alles tut, um Verhandlungen zu initiieren. Das zu erreichen, ist nicht leicht. Das hat auch keiner behauptet. Aber wenn Gespräche mit der stets wiederholten Litanei abgetan werden, mit dem Aggressor Putin könne man sich nicht an einen Tisch setzen, dann tut man nicht genug.

Sie fordern wie Schwarzer und Wagenknecht schnellstmöglich Verhandlungen mit Russland über einen Waffenstillstand als Basis für Friedensgespräche. Die Beantwortung einer Frage lassen die Vertreter dieser Position aber leider immer vermissen: Über was soll verhandelt werden, ohne die Ukraine zu opfern?
Das ist in der Tat eine schwierige Frage, für deren Beantwortung es kein Patentrezept gibt. Klar ist: Wenn nur Maximalpositionen verkündet werden, werden Verhandlungen unmöglich gemacht. Dass der Kriegsverbrecher Putin dies tut, überrascht mich nicht. Aber wenn die Regierung in Kiew sagt, es müssten erst alle russischen Truppen von ukrainischem Territorium inklusive der Krim abziehen, bevor verhandelt werden kann, dann weiß jeder, dass es schwierig wird mit ernsthaften Gesprächen und einem Ende des grauenhaften Tötens. Es muss also die Möglichkeit geschaffen werden, über einen Territorialstatus von vor dem 24. Februar 2022 zu sprechen. Es muss auch eine Lösung für den Donbass geben, etwa eine weitgehende und international garantierte Autonomie dieser Region innerhalb des ukrainischen Staatsgebietes. Die Krim-Frage muss eingefroren werden. Da würde das Regime in Moskau jetzt auch keine Zugeständnisse machen, weil das als eindeutige Niederlage gewertet würde. Für Putin wäre das nicht nur politisch gefährlich, er müsste um sein Leben fürchten. Deshalb würde er in seiner Diktatorenlogik den Krieg mit mörderischer Härte weiterführen.

Wem kann es gelingen, Putin an den Verhandlungstisch zu bekommen?
Es braucht die beiden Supermächte USA und China. Sollten beide bereit sein, für einen historischen Moment über ihren geopolitischen Schatten zu springen und sagen, es ist in unser beider Interesse, dass dieser Krieg endet, dann wäre das eine große Chance. Washington und Peking müssen nicht als beste Freude auftreten, aber als rationale Partner einer sich abzeichnenden neuen Weltordnung. Darin muss es, auch um der europäischen Sicherheit wegen, einen Platz für Russland geben.

Zur Person

Wolfgang Merkel, 71, lehrte lange an den Universitäten Heidelberg und Mainz Politikwissenschaft. Von 2004 bis zu seiner Emeritierung war der gebürtige Oberfranke Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ab 2002 war er parteiloses Mitglied im ständigen Berater- und Expertenkreis des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck (SPD). Merkel zählt zu den angesehensten Vertretern seines Fachs im deutschsprachigen Raum und gilt als einflussreicher wie gefragter Intellektueller. In seiner Forschung beschäftigt sich der Wissenschaftler vor allem mit der Verletzlichkeit von Demokratie.

Sahra Wagenknecht (links) und Alice Schwarzer fordern in ihrem „Manifest für den Frieden“ einen Kurswechsel der deutschen Außenp
Sahra Wagenknecht (links) und Alice Schwarzer fordern in ihrem »Manifest für den Frieden« einen Kurswechsel der deutschen Außenpolitik mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
x