Zu Ostern Die Krise und die Religion: Was uns heute hilft

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Der Speyrer Dom zur Osternacht.
Ein Bild aus vergangenen Tagen: Der Speyrer Dom zur Osternacht.

An Ostersonntagen sind die Kirchen üblicherweise voll. Diesmal aber ist alles anders. Was Religion in dieser Krise leistet, welche Deutung in den Giftschrank gehört – und warum Kirchenvertreter gerade jetzt ein Wörtchen mitreden sollten.

Wer es einmal erlebt hat, wird es vermisst haben heute Nacht: Der Dom ist gut gefüllt und stockdunkel. Konzentrierte Stille. Kaum ein Rascheln oder Räuspern sind zu hören. Dann beginnt eine einzelne Kerze den Raum zu erleuchten: die Osterkerze. Gemessenen Schrittes wird sie durch das Kirchenschiff zum Altar getragen und gibt ihr Licht an viele kleine Kerzen ab – wie eine Welle, die durch den Raum geht: „Christus ist glorreich auferstanden vom Tod. Sein Licht vertreibe die Dunkelheit der Herzen.“

Mir fehlt vor allem die Auferstehungsfeier auf dem Oggersheimer Friedhof: kurz vor Sonnenaufgang mit dem Rad durch die kühle Morgenluft, verschlafen und oft auf die letzte Minute, so dass ich die Posaunen schon aus der Entfernung hören kann. Und dann das Osterevangelium: „Fürchtet Euch nicht! Ich weiß, dass Ihr Jesus, den Gekreuzigten sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden.“ In diesem Moment steht felsenfest, was an vielen anderen Tagen des Jahres so unwahrscheinlich erscheint: Die Gräber um mich herum, das Leiden, die Gewalt und der Tod – das ist nur das Vorletzte. In diesem Jahr ist es anders. Vielleicht werde ich mit meiner Familie am Ostermorgen zum Feldkreuz der Kolpingfamilie im Maudacher Bruch gepilgert sein, um dort die Auferstehung zu feiern. Aber das ist nicht dasselbe.

Das Gottesdienstverbot ist nicht trivial

Seit dem 16. März sind in Deutschland wie in den meisten anderen Ländern der Welt „Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften“ verboten. Die Religionsgemeinschaften setzen das beflissen um – und schalten damit eine systemrelevante Kernfunktion von Religion einfach ab. „Der Islam stellt die Bewahrung des Lebens über die Sicherstellung der Religion“, erklärte etwa der Vorsitzende des Rates der Imame und Religionsgelehrten in Deutschland, Taha Amer. Die einflussreiche Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs versicherte: „Es ist völlig klar, dass wir den Staat dabei unterstützen, die Infektionsketten zu durchbrechen“. „Natürlich werden die Christen in Deutschland den Karfreitag begehen und den Ostersonntag der Auferstehung – aber nicht in der Kirche, Seite an Seite mit anderen Gläubigen“, meinte Kanzlerin Angela Merkel. Im Blick auf Pessach und Ramadan könnte sie ähnlich formulieren.

Angesichts von Kontaktverbot, Schulschließungen, dem Verzicht auf Verwandtenbesuche, der Abriegelung von Pflegeheimen und Kliniken sowie dem Herunterfahren ganzer Wirtschaftszweige mag das Gottesdienstverbot eine zumutbare Einschränkung sein. Trivial ist sie nicht. Denn die Freiheit, seine innersten Überzeugungen öffentlich, gemeinsam mit anderen und ohne Restriktionen zum Ausdruck bringen zu dürfen – die Religionsfreiheit also – ist eine der tiefgründigsten Äußerungen des Frei-Seins.

Die Große Pest wurde als Zorn Gottes gedeutet

Normalerweise hat Religion in Krisen Hochkonjunktur. Auf Seuchen, Überschwemmungen, Missernten und Kriegsgefahr reagierte die Menschheit jahrhundertelang mit Bittgottesdiensten, Prozessionen, Marienkult und schlichter Frömmigkeit. Die Große Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde als Zorn Gottes gedeutet. Die Antwort konnte nur eine religiöse sein: das Gebet zu den Pestheiligen Rochus und Sebastian. Die Unsicherheiten und Gewaltexzesse des Dreißigjährigen Krieges boten den Nährboden für die frommen Liederdichtungen des lutherischen Theologen Paul Gerhard. Die Oberammergauer Passionsspiele erinnern seit 1634 an eine überstandene Pestepidemie. Auch für dieses Jahr war eine Aufführung geplant.

Bis heute füllen sich die Kirchen, wenn Krisen zu bewältigen sind: das Flugschau-Unglück von Ramstein, die Anschläge auf das World-Trade-Center, der Amoklauf in Winnenden, das Berliner Weihnachtsmarkt-Attentat. Nach solch verstörenden Ereignisse suchen Menschen regelmäßig Trost in Gottesdiensten und religiösen Feiern.

Die Kraft der Rituale

Wenn die Welt aus den Fugen gerät, bieten religiöse Rituale einen Rahmen, dem man sich anvertrauen kann. Das Ritual signalisiert: Alles ist in Ordnung, auch wenn gar nichts mehr in Ordnung ist. Und es hilft, die Ambivalenzen des Daseins auszuhalten. In der gegenwärtigen Krise bleiben nur Hilfskonstruktionen, die dennoch etwas erahnen lassen von der Kraft der Rituale: Glockenläuten, islamischer Gebetsruf, Kerzen im Fenster, abendliches Balkonsingen oder Beerdigungen, die nur noch im kleinsten Kreis stattfinden dürfen. Ähnlich ist es mit Gottesdiensten im Netz, im Fernsehen und im Radio. Immerhin ist da eine Pfarrerin, ein Bischof, eine Kantorin oder ein Imam, der die zerbrechliche Ordnung stellvertretend aufrechterhält.

Dass man Krankheitserreger weg beten kann, glauben heute nur noch sehr wenige. Die Vorstellung, dass ein wahlweise zorniger oder barmherziger Gott durch unsere Gebete dazu bewegt werden müsste, der Pandemie von oben Einhalt zu gebieten – das ist theologisch abwegig und für den gesunden Menschenverstand unzumutbar. Gebete sind etwas anderes: Sie fassen Verunsicherung, Ängste, Schmerz, Ratlosigkeit, Hoffnungen und Vertrauen in Worte, teils in liturgisch geprägter Sprache – also in Worten, die wir uns leihen – teils in ganz persönlichen Formulierungen. Das kann entlasten und befreien. Wenn es gemeinsam geschieht, bricht es die Vereinzelung auf, in der wir mit unserem persönlichen und individuellen Krisenerleben stecken. Nicht umsonst gehören die Fürbitten zu den bewegendsten Passagen in den medialen Corona-Gottesdiensten.

Tragen Religion und Theologie etwas zur Deutung der Krise bei? Haben Kirchenvertreterinnen etwas anderes zu sagen als das, was die Kanzlerin und das Robert-Koch-Institut nicht aufhören zu betonen: Wir müssen uns an die Regeln halten. Es geht darum, Leben zu retten. Wir müssen besonnen sein. Wir müssen aufeinander achten. Wir dürfen diejenigen nicht aus den Augen verlieren, die unter der Pandemie oder unter ihrer Bekämpfung besonders leiden.

Strafe? Prüfung? Das gehört in den Giftschrank

Klassische religiöse Deutungskategorien der Krise sind Strafe und Prüfung. Beide gehören in den theologischen Giftschrank. Sie operieren mit der Vorstellung eines göttlichen Willkürherrschers, der in voller Absicht und offensichtlich wahllos Leid über Menschen bringt – entweder als Vollstrecker einer höheren Gerechtigkeit oder als Pädagoge, was nur wenig besser ist. In beiden Fällen handelt es sich um einen Gott, der über Leichen geht und mit dem man sich nicht wünschen mag, etwas zu tun haben zu müssen.

Milder und nur scheinbar weltlicher kommt eine andere Deutung daher: Der geschundene Planet rächt sich. Mit pantheistischem Raunen bekommt die Pandemie auch hier einen höheren Sinn zugeschrieben. Theologisch ist das Aberglauben, naturwissenschaftlich blanker Unsinn. Die Erde ist kein vernunftbegabtes Wesen, das zu seiner Verteidigung ein tödliches Virus designen und in den Kampf gegen den Klimawandel schicken könnte.

Aus theologischer Perspektive sagen Krisen eher etwas über den Zustand der Welt und der Menschen aus als über Gott. In verdichteter Form lassen sie erkennen, wer wir sind und unter welchen Bedingungen wir leben. Das Schöne und Edle tritt in Erscheinung, wenn Nachbarschaftshilfe blüht, Obdachlose mit Nahrungsmitteln versorgt werden, Rücksichtnahme selbstverständlich wird und Männer oder Frauen bis zur Erschöpfung darum kämpfen, Menschenleben zu retten. Das hässliche Gesicht zeigt sich, wenn Egoismus siegt – sei es im Supermarkt, sei es zwischen den Völkern –, wenn häusliche Konflikte in Gewalt umschlagen oder wenn Flüchtlinge sich selbst überlassen bleiben. In verdichteter Form führt uns die Krise auch vor Augen, was wir unter normalen Umständen besonders eifrig verdrängen: wie verletzlich unsere Zivilisation ist und wie begrenzt wir sterblichen Menschen sind. Das ist der Kern und Anfang aller Religion: das „Gefühl vollständiger Abhängigkeit“, wie es der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher ausgedrückt hat.

Wollen wir uns ändern?

In der Vergangenheit haben kollektive Krisenerfahrungen immer wieder die Frage nach Neuorientierungen aufgeworfen – religiös gesprochen: die Frage nach Buße und Umkehr. In den Ritualen der hebräischen Bibel und in der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis wird das noch ganz archaisch zur Darstellung gebracht: Das Volk geht in Sack und Asche. Fasten, Beten und Einkehr sind angesagt, um herauszufinden, was sich ändern soll. Und Gelübde werden abgelegt für die Zeit danach. Bei aller Abständigkeit solcher Praktiken – auch im 21. Jahrhundert sind Krisen Wendepunkte, die Entscheidungen fordern. Wollen wir uns ändern? Oder wollen wir möglichst schnell und nahtlos wieder anknüpfen an die Normalität, aus der uns die Pandemie so brüsk herausgerissen hat? Fahren wir das System einfach wieder hoch oder soll es nach dem Shutdown ein echtes Reset geben?

Theologen und Kirchenvertreterinnen wirken seltsam zaghaft, wenn es um Krisendeutungen und um mögliche Neuorientierungen geht. Die Debatte bestimmen andere: Virologen, Politikerinnen, Ökonominnen, Verfassungsjuristen. Dabei geht es um wesentliche Weichenstellungen – spätestens dann, wenn wir beginnen, ernsthaft über Exit-Strategien nachzudenken. Wie wollen wir gewichten? Welche Prioritäten setzen wir? An welcher Stelle rangieren Gesundheit, Wirtschaftskraft, Freiheitsrechte, Teilhabe, Geselligkeit, Kultur oder Frömmigkeit? Was tut uns sterblichen, elenden und herrlichen Menschen gut? Was schulden wir einander? Es wird spannend zu beobachten sein, ob die Religion da ein Wörtchen mitzureden weiß oder ob sie – wie manche befürchten – zur großen Verliererin der Corona-Krise wird. In 50 Tagen werden wir vielleicht schon klarer sehen. Dann ist Pfingsten.

Unser Gastautor

Christoph Picker ist promovierter Theologe, Kirchenhistoriker und Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz.

Die Akademie im Internet

Die Kirchen müssen jetzt leer bleiben. Aber in manchen Kirchen – hier St. Severus in Boppard -- füllen Fotos der Gemeindemitglie
Die Kirchen müssen jetzt leer bleiben. Aber in manchen Kirchen – hier St. Severus in Boppard -- füllen Fotos der Gemeindemitglieder die leeren Bänke.
Eine Kerze im Fenster: Das ist eins der Rituale, die in Corona-Zeiten gepflegt werden.
Eine Kerze im Fenster: Das ist eins der Rituale, die in Corona-Zeiten gepflegt werden.
Unser Gastautor Christoph Picker ist Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz.
Unser Gastautor Christoph Picker ist Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz.
x