Meinung Deutschland, Land der Egoisten

Der Verzicht aufs Blinken ist eine Metapher für einen besorgniserregenden Trend zur Individualisierung.
Der Verzicht aufs Blinken ist eine Metapher für einen besorgniserregenden Trend zur Individualisierung.

Viele Menschen sind der Meinung, dass sich etwas ändern muss im Land. Eine weniger gute Idee ist es, seine persönliche Freiheit über das Wohl aller zu stellen.

Die Deutschen sind Blink-Muffel. Sei es im Kreisverkehr auf der Landstraße, sei es beim Spurwechsel auf der Autobahn, sei es beim Abbiegen im Stadtverkehr – offenbar sind viele Autofahrerinnen und Autofahrer der Ansicht, dass es ihre Freiheit beschneidet, wenn sie ihre Absichten rechtzeitig anderen Verkehrsteilnehmern ankündigen. Wer sich jetzt angesprochen fühlt, darf natürlich gerne auf Fahrradfahrer schimpfen, die aufs Handzeichen verzichten; für die gilt selbstverständlich das Gleiche.

Je nach Erhebung setzt jeder dritte oder sogar jeder zweite Autofahrer das Lichtzeichen nicht vorschriftsmäßig. Dabei wäre das doch nur eine Kleinigkeit, die quasi nebenbei erledigt werden kann. Eine Handlung, die niemandem schadet und deren bewusstes Weglassen keinerlei Nutzen bringt. Ganz im Gegenteil: „Unterlassenes Blinken“, womöglich noch ohne Schulterblick, zählt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat neben zu schnellem Fahren zu den gefährlichsten Unfallursachen. Und zugleich gehört es für die meisten zu den größten Ärgernissen. Unfähig sind also immer die anderen – eine Binsenweisheit.

Auf dem Weg zur Egogesellschaft

Der Zahnarzttermin, die Kinder vom Sport abholen: Jeder sieht nur sein Ziel, das es zu erreichen gilt – und vergisst dabei, dass die anderen Autofahrerinnen und Autofahrer vermutlich die gleichen Bedürfnisse haben. Dabei ist es doch so, dass womöglich alle einen Vorteil hätten, wenn jeder Einzelne etwas langsamer fahren würde, mehr Abstand hielte oder andere einfädeln ließe.

So gesehen ist der Verzicht aufs Blinken auch eine Metapher für einen besorgniserregenden Trend zur Individualisierung, hin zu einer Egogesellschaft, in der es akzeptiert ist, die Ellenbogen auszufahren. Das hat sich freilich schon länger abgezeichnet; so richtig Fahrt aufgenommen hat es jedoch während der Coronavirus-Pandemie. In diesen unseligen Jahren wurde es in manchen Kreisen ja regelrecht schick, sich keinen Regeln zu unterwerfen und stattdessen den Rebellen zu spielen, der die persönliche Freiheit über das Wohl der Allgemeinheit stellt.

Corona ist Vergangenheit – auch wenn es noch lohnend wäre, aufzuarbeiten, was in der Pandemie gut und was weniger gut lief. Heute heißen die Themen Subventionsabbau, Fachkräftemangel, Klimaschutz und Heizungsgesetz. Auch hier gibt es Parallelen zum Nicht-Blinken: Maßnahmen, die eine Mehrheit als prinzipiell richtig erachtet, werden abgelehnt, wenn man selbst davon betroffen ist. Dafür gibt es ein Sprichwort: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.

Aussitzen ist keine Option mehr

Keine Frage: Die Ampel hat – um es positiv zu formulieren – nicht immer geschickt kommuniziert. Sogenannte handwerkliche Fehler bei der Ausarbeitung von Gesetzen, Durchstechereien und interner Streit haben den Eindruck erweckt, diese Bundesregierung sei prinzipiell überfordert. Indem sie Katalysator von Frust und Wut war, hat sie einen Proteststurm gegen nahezu jede Entscheidung heraufbeschworen. Und es ist davon auszugehen, dass es jetzt, da die Verhandlungen für den Haushalt 2025 begonnen haben, nicht besser wird.

Es führt aber nicht weiter, nur der Meinung zu sein, dass sich in diesem Land Grundlegendes ändern muss, wenn es hart auf hart kommt jedoch den Kopf in den Sand zu stecken. Einerseits fehlt inzwischen das Geld, um Koalitionsstreitigkeiten damit zu befrieden. Auch aussitzen ist keine Option mehr; dafür sind die Probleme zu offensichtlich.

Mit dem Blinken fängt es an. Mit mehr gesellschaftlichem Engagement könnte es weitergehen. Es sind gerade nicht die Zeiten für übertriebenen Egoismus.

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