Kalender Als Joschka Fischer zur Vereidigung in Turnschuhen kam

Joschka Fischer wird von Holger Börner (SPD) als hessischer Minister für Umwelt und Energie im Landtag zu Wiesbaden vereidigt.
Joschka Fischer wird von Holger Börner (SPD) als hessischer Minister für Umwelt und Energie im Landtag zu Wiesbaden vereidigt.

Nicht genug damit, dass mit Joseph „Joschka“ Fischer vor 35 Jahren erstmals ein Grünen-Politiker einen Kabinettsposten, in diesem Fall in Hessen, besetzte. Auch die Umstände seiner Vereidigung sorgten für Aufsehen.

Keineswegs im Deutschen Schuhmuseum von Hauenstein, wohl aber im Deutschen Ledermuseum von Offenbach (Hessen) ist heute ein Paar weiße Turnschuhe zu bewundern, die einst Joseph „Joschka“ Fischer gehörten. Der spätere Bundesaußenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland trug sie am 12. Dezember 1985. An diesem Tag legte er, als erster Grüner überhaupt, einen Amtseid als Minister ab.

Natürlich führte das Tragen dieser Turnschuhe bei den krawattetragenden Abgeordneten im Landtag von Wiesbaden und später in den Medien zu lebhaften Diskussionen. Doch genau darauf hatte Fischer ja spekuliert. Die Turnschuhe waren ein Symbol. Dafür, dass die Grünen einen anderen Politikstil pflegten: leger, nicht abgehoben. 1985 war Fischer gerade einmal 37 Jahre alt, und die damalige Anti-Parteien-Partei „Die Grünen“ gab es seit fünf Jahren.

Tabus brechen

Die Turnschuhe waren auch eine Provokation. Joschka Fischer liebte es, Tabus zu brechen. Auch innerhalb der eigenen Truppe. Bei den Grünen gab es zu dieser Zeit viele, die ihre Partei nicht in irgendwelchen Regierungen sehen wollten – weil man da die eigenen Werte verraten würde. Noch mehr allerdings gefiel es Fischer, konservative Geister zu ärgern. Damals waren dies die (zumeist) männlichen Politiker von CDU/CSU. Doch auch SPD’ler konnte es treffen, vor allem wenn sie die Grünen nur als Wurmfortsatz ihrer eigenen Partei betrachteten oder als irregeleitete Bürgersöhne, denen es auch an Anstand fehlte.

Ein solch konservativer SPD-Mann war der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner, der nun seinen Minister Joschka Fischer vereidigen musste. Immerhin war Fischer im Jackett erschienen, allerdings ohne Krawatte.

Gerne auch mit der Dachlatte

Dass Börner und die hessische SPD überhaupt mit den Grünen und deren Spitzenmann Fischer koalierten, geschah aus der Not heraus, nicht aus Neigung. Dem gelernten Betonfacharbeiter und überzeugten Gewerkschafter Börner wird – mit Blick auf die teils gewaltsame Auseinandersetzung um den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen, zugleich einer der Gründungsmythen der Grünen – der Satz zugeschrieben: „Ich bedauere, dass es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit der Dachlatte erledigt.“

Damit war indirekt auch Fischer gemeint, in den späten 70er und frühen 80er Jahren Mitglied der Frankfurter Alternativszene. Mit der Aufnahme der Grünen und des einstigen Straßenkämpfers Fischer in die Regierung beendete SPD-Ministerpräsident Börner indes eine mehrjährige Übergangsphase, in der er teilweise nur mit wechselnden Mehrheiten und damit recht mühsam regierte.

Beschleunigter Häutungsprozess

Allerdings hielt das bundesweit erste rot-grüne Bündnis nicht allzu lange. Bereits 14 Monate später, im Februar 1987, zerbrach Rot-Grün wegen des heftigen Streits über eine (mittlerweile längst geschlossene) Atomfabrik in Hanau. Die folgenden Landtagswahlen in Hessen gewann dann Schwarz-Gelb – und mit Walter Wallmann wurde erstmals ein CDU-Politiker hessischer Ministerpräsident.

Das Datum 12. Dezember 1985 ist gleichwohl historisch zu nennen. Denn der Eintritt der hessischen Grünen in die Regierungsverantwortung beschleunigte den politischen Häutungsprozess bei der jungen Partei: Nachdem zuerst eher rechtsgerichtete und wertkonservative Kreise das bunte Konglomerat namens „Die Grünen“ verlassen hatten, setzte nun die Abspaltung der linksradikalen Kräfte ein. In den Landesverbänden und vor allem auf Bundesebene.

Mit dem Einzug in die Landesregierung erarbeiteten sich die hessischen Grünen den Ruf, „Realos“ zu sein. Sie öffneten vielen Parteimitglieder die Augen dafür, dass man nicht nur außerparlamentarisch etwas bewegen konnte, sondern auch an den Hebeln der Macht.

Der Kalender

DIE RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. In unserem Jubiläumskalender erinnern wir jeden Tag an ein besonderes Ereignis oder eine ungewöhnliche Geschichte aus den vergangenen 75 Jahren.

12122020_20tage
x