Afrika 30 Jahre Genozid in Ruanda: Papa, wo bist du?

Nur wenige Kilometer außerhalb der quirligen Hauptstadt Kigali ist das Leben deutlich ruhiger. Wegen seiner Landschaft wird Ruan
Nur wenige Kilometer außerhalb der quirligen Hauptstadt Kigali ist das Leben deutlich ruhiger. Wegen seiner Landschaft wird Ruanda auch »Land der tausend Hügel« genannt.

Innerhalb weniger Tage wurden 1994 in Ruanda fast eine Million Menschen massakriert. Auch 30 Jahre später gibt es dort keine Familie, die nicht von den Folgen betroffen ist. Der Schmerz reicht bis zu einem Popstar nach Belgien.

Unter seinem richtigen Namen kennen ihn nur wenige. Aber als Stromae ist Paul Van Haver (39) der wahrscheinlich größte Popstar Belgiens. Mit „Alors on danse“ schrieb und sang er vor 15 Jahren seinen ersten Welthit. Seitdem ist er ein Nationalheiliger, geboren in Brüssel. Fragt man Taxifahrer in der belgischen Hauptstadt, worauf sie stolz sind, nennen sie die großen Fußballer des Landes, belgische Fritten, Bier, Comics und Stromae – Sohn einer belgischen Mutter und eines ruandischen Vaters.

Superstar mit einem typisch ruandischen Schicksal: Stromae.
Superstar mit einem typisch ruandischen Schicksal: Stromae.

Seinen Vater hat Stromae kaum kennengelernt. Er war noch ein Kleinkind als sein Vater ihn verließ und zurück nach Kigali ging, der größten Stadt Ruandas – wo er 1994 ermordet wurde. Ermordet von einem aufgeputschten Mob, weil er der falschen Volksgruppe angehörte, der Volksgruppe der Tutsi. Mehr als 800.000 Menschen wurden zwischen April und Juli 1994 in dem kleinen ostafrikanischen Land getötet, nachdem die damalige Regierung zum Massenmord an den Tutsi aufgerufen hatte.

Opfer und Täter

30 Jahre später hängen die Wolken tief über Kigali. Die große Regenzeit von März bis Mai lässt die Kuppeln der vielen grünen Hügel rund um die 1,7-Millionen-Einwohner-Metropole unter schwül-heißem Nebeldampf verschwinden. Seit der Unabhängigkeit von Belgien im Jahr 1962 ist Kigali die Hauptstadt Ruandas. Schon in den Tagen vor dem offiziellen Gedenken an den Völkermord ist es auf den Straßen deutlich ruhiger geworden. Niemand hier spricht gerne über das, was vor 30 Jahren geschah. Über den Horror von 1994. Über Schmerz und Scham. Keine ruandische Familie, die nicht beteiligt oder betroffen war: als Täter und als Opfer.

Assumpta Mugiraneza war 27 als das Töten begann. Was im April 1994 passierte, hat ihr Leben für immer verändert. Noch heute sieht man den Schmerz in ihren Augen, wenn sie darüber spricht. „Die Mörder sind gekommen und haben meine Familie getötet“, erzählt die Sozialpsychologin und Politikwissenschaftlerin. Dass sie heute überhaupt darüber sprechen kann, liege nur daran, dass sie während des Genozids nicht in Ruanda, sondern im Ausland war: als Studentin in Paris.

Für Assumpta Mugiraneza hat der Genozid nie wirklich aufgehört.
Für Assumpta Mugiraneza hat der Genozid nie wirklich aufgehört.

In ihrem Heimatland hatte sich zu dieser Zeit der Hass der Volksgruppe der Hutu gegen die Minderheit der Tutsi immer mehr angestaut. Der damalige Präsident und Diktator Juvenal Habyarimana begünstigte die Hutu, zu denen er selbst gehörte. Und er befürchtete, dass die von Exil-Tutsi im Nachbarstaat Uganda gegründete Rebellenarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) ihm die Macht streitig machen könnte. Als in der Nacht vom 6. auf den 7. April das Flugzeug von Habyarimana in Kigali abgeschossen wurde, gab es für den Blutrausch der fanatisierten Hutu kein Halten mehr.

Mit Knüppeln erschlagen

Wer für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist, wurde nie offiziell geklärt. Manche vermuten, dass es die Hutu selbst waren, um einen Auslöser für den Genozid an den Tutsi herbeizuführen. Denn die Massaker waren von langer Hand vorbereitet: Seit Monaten riefen Radiosender zur Vernichtung der Tutsi auf, Macheten wurden an Hutu-Milizen verteilt.

„Ende September 1994 bin ich schließlich nach Ruanda zurückgekehrt“, erzählt Assumpta Mugiraneza. Aber erst als sie am Flughafen in Kigali angekommen ist, habe sie bemerkt, dass sie kein Zuhause mehr habe. Ihre Familie war tot, das Haus zerstört. Sie spricht leise aber bestimmt: „Ich habe das innerlich längst gewusst, aber bis dahin war es kein Teil von mir.“

In einer Kirche in Nyamata wollten sich 1994 tausende Menschen vor den Mördern schützen. Doch diese brachen die Gittertür (schwa
In einer Kirche in Nyamata wollten sich 1994 tausende Menschen vor den Mördern schützen. Doch diese brachen die Gittertür (schwarz) auf und töteten Männer, Frauen, Alte und Kinder.

Nicht nur Hutu-Milizen, auch ganz normale Menschen – Männer, Frauen, Jugendliche – wurden zu Mördern. Sie töteten Nachbarn, Kollegen, Kinder und Alte. Da die wenigsten von ihnen Schusswaffen besaßen, wurden die Opfer mit Knüppeln erschlagen, mit Macheten geköpft oder mit Händen erwürgt. Noch heute sind auf Ruandas Straßen keine Hunde zu sehen. Es heißt, auch sie seien erschlagen worden, als sie begannen, die Leichen zu fressen.

Nach 100 Tagen waren mindestens 800.000 Menschen tot, darunter auch gemäßigte Hutu, die sich nicht an dem Verbrechen beteiligen wollten. Dann, nach drei langen Monaten, gelang es der Rebellenarmee RPF unter Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame, das Morden zu stoppen. Eine Million Mörder wurden verjagt. 150.000 wurden verurteilt – heute sind die meisten von ihnen wieder aus den Gefängnissen entlassen, leben Tür an Tür mit den Angehörigen der Opfer.

Heute ist die Kirche in Nyamata eine Gedenkstätte in der Kleidung, Knochen und Schädel der Ermordeten an das Massaker erinnern.
Heute ist die Kirche in Nyamata eine Gedenkstätte in der Kleidung, Knochen und Schädel der Ermordeten an das Massaker erinnern.

Präsident Kagame zumindest sieht darin kein Problem. So berichtet es die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) nach einem gemeinsamen Gespräch in Kigali. Die meisten der Inhaftierten seien schon vor längerer Zeit entlassen worden und hätten sich seither gut integriert. Auch sie habe das Gefühl dass die Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben der Ruander groß sei, sagt Dreyer. Sie war gemeinsam mit einer Delegation aus Politik, Wirtschaft und Verbänden in das rheinland-pfälzische Partnerland aufgebrochen, um Gedenkveranstaltungen und mit Rheinland-Pfalz verbundene Organisationen zu besuchen.

Schon seit mehr als 40 Jahren besteht die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda, das Anfang der 1980er Jahre als ideales Partnerland erschien: französische Einflüsse, katholisch geprägt und mit knapp vier Millionen Einwohnern in etwa gleich groß wie das deutsche Bundesland. Doch während die Bevölkerung in Rheinland-Pfalz seither kaum gewachsen ist, hat sie sich in Ruanda mehr als verdreifacht, das Durchschnittsalter liegt heute bei 22,7 Jahren (Deutschland: 44,6).

Trotz des Unterschieds gilt die Partnerschaft heute als Musterbeispiel für bilaterale Zusammenarbeit. In Ruanda sind aktuell mehr als 50 Vereine und Stiftungen, 40 Kommunen, zwölf Pfarreien, sieben Universitäten und Fachhochschulen sowie 194 Schulen und zahlreiche Einzelpersonen und Einzelinitiativen aus Rheinland-Pfalz aktiv.

Straßenszene in Kigali.
Straßenszene in Kigali.

Ungeachtet der Überbevölkerung gilt Ruanda als eines der Länder mit den größten Entwicklungsfortschritten Afrikas, es gibt kaum Kriminalität, die Korruption ist vergleichsweise gering – und doch leben fast 40 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze. Damit Gäste das nicht bemerken, ist Barfußgehen verpönt.

„Es gibt noch viel Arbeit“

„Vor Ausländern sind wir es gewohnt, unser bestes Gesicht aufzusetzen“, sagt Assumpta Mugiraneza. Es stimme zwar: im Großen und Ganzen seien Opfer und Täter heute versöhnt. Aber wenn man genau hinschaue, sei es doch kompliziert. „Es gibt noch viel Arbeit für die nächsten 30 Jahre.“

Ruandas Regierung beschwört indessen unverdrossen die Einheit im Land. Die Unterscheidung in Hutu und Tutsi gibt es offiziell nicht mehr. Und nur wenige Menschen wagen es, der offiziellen Linie zu widersprechen. Politische Opposition und Meinungsfreiheit werden unterdrückt. So hört man vor Ort kein kritisches Wort über die Regierung oder den Präsidenten, dessen Wiederwahl im Juli dieses Jahres außer Frage steht – internationale Wahlbeobachter sind dabei nicht zugelassen.

Sonnenuntergang in Kigali.
Sonnenuntergang in Kigali.

Für Assumpta Mugiraneza jedenfalls hat der Genozid nie wirklich aufgehört. „Alle Ereignisse, die danach kamen, standen immer in dessen Schatten“, sagt sie. „Ich habe mich verliebt, geheiratet – und trotzdem ist da immer dieser Genozid. Aber man lebt weiter und ist so stark wie man eben kann.“

Der belgisch-ruandische Popstar Stromae hat seinem ermordeten Vater vor zehn Jahren ein Lied gewidmet: „Papaoutai“ – es war nach „Alors on danse“ sein zweiter Welterfolg. Inzwischen wurde der Song auf Youtube mehr als eine Milliarde Mal aufgerufen – eine Schwelle, die bislang nur ein weiteres französischsprachiges Lied überschritten hat („Dernière danse“ von Indila). „Papa où t’es?“ – „Papa, wo bist du?“, fragt Stromae im Refrain immer und immer wieder – eine Antwort bekommt er nicht. Im dazugehörigen Musikvideo versucht ein Junge mit seinem Vater zu sprechen, zu spielen, ihm nahe zu sein. Doch der Vater bleibt stumm und regungslos auf dem Sofa sitzen, während draußen vor dem Fenster andere Kinder fröhlich mit ihren Vätern spielen.

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Kommentar: Die Freundschaft mit Ruanda hat dem Horror getrotzt

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