Rheinpfalz Heim Schernau bei Martinshöhe feierte 120-jähriges Bestehen

Die Strapazen der Vergangenheit vergessen: Beim Gottesdienst mit Diakon Steffen Dully und Pfarrer Bernhard Schäfer beim Sommerfe
Die Strapazen der Vergangenheit vergessen: Beim Gottesdienst mit Diakon Steffen Dully und Pfarrer Bernhard Schäfer beim Sommerfest der Schernau wurde das 120-jährige Bestehen der Einrichtung gefeiert. Foto: VIEW

Manchmal reicht nur eine Fingerspitze, die einen Menschen wieder in die richtige Bahn lenkt. Nirgendwo weiß man das besser, als auf der Schernau, dem Alten-, Pflege- und Übergangsheim bei Martinshöhe. Mit einem Fest wurde jetzt das 120-jährige Bestehen der Einrichtung gefeiert.

Im großen Festzelt wird fröhlich gegessen, erzählt, gesungen und immer wieder lauthals gelacht. Ein guter Tag. Ein glücklicher Tag, von denen die rund 190 Heimbewohner in ihrer Vergangenheit vermutlich nicht viele hatten.

Vor 120 Jahren befand sich an diesem Ort noch eine Arbeiterkolonie. Seit den 1950er Jahren ist die weitläufige Heim-Anlage Auffangnetz und Zufluchtsort für diejenigen, die durch das soziale Raster gefallen sind. „Es sind Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen“, weiß Heimleiter Dieter Müller. Alle haben schwere Einzelschicksale hinter sich – von Alkohol- und Drogensucht, über Arbeits- und Obdachlosigkeit bis hin zu teilweise schweren Straftaten, psychischen und körperlichen Erkrankungen und harten Familientragödien.

Als Mensch angenommen werden

„Wenn die vier F auf einmal weg sind – also Familie, Führerschein, Feierabend und Finanzen – dann wird es ziemlich eng. Und dann ist es wichtig, eine Einrichtung zu haben, in der man urteilsfrei und auf Augenhöhe als Mensch angenommen wird – egal, was vorher war“, sagt Müller. „Wir arbeiten hier nicht nur zusammen, wir leben hier zusammen und werden hier auch zusammen alt.“ Der älteste Bewohner habe erst vor wenigen Tagen „45 Jahre Schernau“ gefeiert.

Rolf Kwapil, der im Heim auch als der „Cowboy“ bekannt ist, hat ein paar Heim-Jahre weniger auf dem Buckel, ist aber lang genug dort, um den Wert einer solchen Einrichtung zu kennen. Für ihn sei es die letzte Rettung vor dem Abgrund gewesen, bekennt der 65-Jährige. „Ich bin früh ins Loch gefallen. Ich sag's, wie es ist: Keine Wohnung, keine Arbeit, oft im Krankenhaus gelegen, viel getrunken.“ 1994 kam der gebürtige Zweibrücker das erste Mal auf die Schernau. Dann sei er „abgehaun zu den Schaustellern“.

Er habe überall geschafft, sei viel rumgekommen. Aber am Schluss sei er wieder in ein Loch gefallen. „Und ich bin froh, dass Herr Müller mich aufgenommen hat – sonst würde ich jetzt immer noch auf der Straße liegen.“ Seit 17 Jahren nennt der „Cowboy“ die Schernau nun sein Zuhause. Heute arbeitet er in der Werkstatt und ist Vorsitzender des Heim-Beirats. „Ich hab's hier schön, ich geh' hier nicht mehr weg“, betont Rolf Kwapil.

Strapazen aus Vergangenheit vergessen

Am Festtag zum 120. Bestehen der Einrichtung sind alle Strapazen aus der Vergangenheit vergessen. Denn mit dem jährlichen Sommerfest, das von der Heimleitung ausschließlich für die Bewohner, ihre Freunde und Familien organisiert wird, kehrt ein kleines bisschen Glück ins Unglück zurück – was man den vielen Gesichtern auch Tag ansieht.

So wie bei Dieter-Karl Schmidtchen. Der 59-Jährige sitzt seit Jahren im Rollstuhl, was seinen Lebensmut aber nicht gebrochen hat. „Ich hab’ keine Lehre, ich hab' keinen Beruf, und ich hab' ein Kind aus einer ersten Beziehung“, erzählt er. Seit seiner Jugend ist er von einer Beschäftigung zur nächsten gewandert. Irgendwann wurde ihm die Arbeit – und das Leben – zu schwer. Von Mitleid will er aber nichts hören: „Ich hasse Mitleid, ich habe ein gesundes Selbstbewusstsein“, sagt er. Seit drei Jahren wohnt er auf der Schernau. Und hier kann der stolze Kaiserslauterer seine große Passion ausleben: die Musik. Momentan versuchen die Heim-Mitarbeiter dem Rock'n'Roll-Fan einen Konzertbesuch zu ermöglichen.

Auch Professoren unter den Bewohnern

Nicht alle der Bewohner waren einst ungelernte Wanderarbeiter. Im Heim leben auch ehemalige Hochschulprofessoren und pensionierte Juristen. „Als ich mit der Arbeit hier angefangen habe, dachte ich, dass jeder Mensch in seinem Leben auf einem breiten Weg läuft – mit riesigen Barrieren an den Seiten“, sagt Heimleiter Müller. Nach sehr kurzer Zeit habe er festgestellt, dass jeder Mensch auf einem ganz schmalen Grat gehe. „Mit viel Wind von vorne und von der Seite. Und wenn man dann ein kleines bisschen wankt, braucht es nicht mal eine ganze Hand, sondern oft nur eine Fingerspitze, um sich wieder so zu stabilisieren, dass man weitergehen kann“, sagt Müller. Zum Glück gab es immerhin beim diesjährigen Sommerfest genügend Hände und Fingerspitzen von Angehörigen und Freunden, um für einen Tag die Sorgen des Lebens zu vergessen.

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