Rheinland-Pfalz Altersbestimmung bei Flüchtlingen: "Keine verlässliche Methode"

Das Röntgenbild zeigt die Hand einer 16 bis 19 Jahre alten Person.
Das Röntgenbild zeigt die Hand einer 16 bis 19 Jahre alten Person.

Politiker und Mediziner debattieren über Verfahren und das Für und Wider

Wie exakt lässt sich das Alter eines Menschen bestimmen? Und unter welchen Voraussetzungen soll dies bei Flüchtlingen praktiziert werden? Über diese Fragen sind nach der Bluttat von Kandel erneut leidenschaftliche Debatten entbrannt. Und zwar unter Politikern wie auch unter Medizinern. Es gibt verschiedene Methoden, das Alter eines Menschen zu ermitteln. Ursula Wittwer-Backofen vom Freiburger Universitätsklinikum hat sich auf Zahnwurzeln spezialisiert: Dort lagern sich jedes Jahr winzige Zementbänder ab. Unter dem Mikroskop lassen die sich nach den Worten der Professorin so verlässlich auszählen wie die Jahresringe von Bäumen. Im Falle des Afghanen, der sich wegen des brutalen Sexualmordes an einer Freiburger Studentin vor Gericht verantworten muss, kam die Wissenschaftlerin auf ein Alter zwischen 22,05 und 29,55 Jahren. Und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent. Der Zahn war dem Afghanen vor der Tat aus medizinischen Gründen gezogen worden.

Vorzugsbehandlung für Jüngere

Der Freiburger Angeklagte hatte bei seiner Einreise im November 2015 behauptet, erst 16 Jahre alt zu sein. Dadurch genoss er gegenüber erwachsenen Flüchtlingen eine Vorzugsbehandlung: komfortablere Unterbringung und intensivere Betreuung. Diese Tatsache scheint sich im Ausland herumgesprochen zu haben. Die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner etwa behauptete gestern unter Berufung auf Experten, dass „mindestens ein Drittel der von den Jugendämtern in Obhut genommenen jungen unbegleiteten Flüchtlingen älter als 18 Jahre“ sei.

Kaum konkrete Zahlen

Tatsächlich sind Zahlen kaum zu bekommen. So beklagte zwar der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Samstag: „Noch immer täuschen zu viele Flüchtlinge ein jugendliches Alter vor.“ Aber auf die RHEINPFALZ-Frage, wie viele 2017 mit falschen Angaben in Bayern ertappt wurden, konnte gestern sowohl sein Haus als auch das Münchner Sozialministerium keine Daten liefern. Auch in Mainz musste das von Anne Spiegel (Grüne) geleitete Integrationsministerium unter Verweis auf die Zuständigkeit der landesweit 41 Jugendämter passen: Weder waren im Ministerium Zahlen zu erhalten, bei wie vielen der 2771 gegenwärtig in Rheinland-Pfalz untergebrachten „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ das Alter mit medizinischen Methoden überprüft wurde, noch wie viele dabei mit einer falschen Altersangabe erwischt wurden.

Angebliches Foto des Angreifers

Nach der tödlichen Messerattacke auf eine 15-Jährige in einer Kandeler Drogerie sind solche Daten wieder in den Blickpunkt gerückt: Der aus Afghanistan stammende Täter behauptet, ebenfalls erst 15 Jahre alt zu sein. Ein im Internet und in der „Bild“-Zeitung verbreitetes Foto, das angeblich den Angreifer zeigt, weckt daran erhebliche Zweifel. Kommen Flüchtlinge ins Land und behaupten, sie seien minderjährig, dann muss das zuständige Jugendamt ihr Alter feststellen. Das geschieht in der Regel durch eine „qualifizierte Inaugenscheinnahme“. Was darunter zu verstehen ist, lässt sich den „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen“ entnehmen, die die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter im April 2017 beschlossen hat: Dabei sollen das „äußere Erscheinungsbild“ bewertet und die in einem Gespräch erhaltenen Informationen zum Entwicklungsstand gewürdigt werden. Eine Untersuchung der Genitalien zur Klärung des Alters wird in jedem Fall ausgeschlossen.

Knochen- und Zahnuntersuchungen

In Zweifelsfällen kann das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung veranlassen. Das können Röntgenaufnahmen der Hand und des Schlüsselbeins sowie eine zahnärztliche Untersuchung sein. Dazu heißt es aber im Papier der Bundesarbeitsgemeinschaft: „Eine exakte Bestimmung des Lebensalters ist weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem noch auf anderem Wege möglich.“ Ähnlich hatte sich am Freitag das Mainzer Integrationsministerium geäußert: „Es gibt bisher keine verlässliche wissenschaftliche Methode, um das aktuelle Lebensalter eines Menschen verlässlich festzustellen.“ Schützenhilfe kam gestern von Frank Ulrich Montgomery, dem Präsidenten der Bundesärztekammer: „Die Untersuchungen sind aufwändig, teuer und mit großen Unsicherheiten belastet.“

"Keine Feststellung des Alters notwendig"

Das exakte Alter wird auch nicht gebraucht, kontern Experten wie Ernst Rudolf, gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für asylrechtliche medizinische Begutachtungen. Denn: „Für zivil- und strafrechtliche Verfahren ist keine Feststellung eines tatsächlich bestehenden, kalendarischen Lebensalters erforderlich.“ Entscheidend sei vielmehr, welcher Altersgruppe jemand angehöre: Jünger als 14 Jahre (minderjährig und strafunmündig), 14 bis unter 18 Jahre (minderjährig und bei Straftaten nach Jugendrecht zu behandeln), 18 bis unter 21 Jahre (volljährig und je nach Reifegrad nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zu behandeln) oder über 21 Jahre (Erwachsenenrecht). Nur wenn die bei einer medizinischen Altersbestimmung ermittelte Bandbreite eines möglichen Lebensalters komplett oberhalb des 18. Lebensjahres liegt, kann laut Rudolf die Minderjährigkeit einer Person „ohne vernünftigen Zweifel ausgeschlossen werden“.

Untersuchung ist freiwillig

Vor diesem Hintergrund hält die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) schärfere Regelungen zur Altersbestimmung nicht für notwendig. Auch Bernhard Braun, der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Landtag, warnt vor einem „unüberlegten Schnellschuss“: Schon jetzt sei es möglich, bei Zweifeln am tatsächlichen Alter die Angaben zu überprüfen: „Ich habe keine politischen Bedenken gegen das Röntgen des Handwurzelknochens“, so Braun gegenüber der RHEINPFALZ. Allerdings, betont die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, müsse ein Flüchtling, bei dem Zweifel an seinem behaupteten jugendlichen Alter bestehen, in eine ärztliche Untersuchung einwilligen. Doch, so ist zu fragen, welcher Betrüger würde dafür seine Zustimmung erteilen? Zumal selbst bei einer Verweigerung kaum Konsequenzen drohen, wie es in dem Papier der Bundesarbeitsgemeinschaft heißt: „Die Weigerung des Betroffenen allein führt nicht automatisch zur Annahme der Volljährigkeit und dem Verlust aller Schutzrechte Minderjähriger.“

Umkehr der Beweispflicht?

Der Grünen-Politiker Boris Palmer brachte denn auch gestern eine Umkehr der Beweispflicht ins Gespräch: „Wer nicht nachweisen kann oder durch eine Untersuchung nicht belegen will, dass er unter 18 Jahren alt ist, wird als Erwachsener behandelt“, forderte der Tübinger Oberbürgermeister auf Facebook. Info Hier geht es zum Überblick der bisherigen Berichterstattung.

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