Politik UN-Koordinator: Noch nie war die Lage in Syrien schlimmer

Abgeschnitten, zerbombt und ausgehungert: Rettungskräfte suchen im Schutt zerstörter Gebäude in Ost-Ghouta nach Überlebenden.
Abgeschnitten, zerbombt und ausgehungert: Rettungskräfte suchen im Schutt zerstörter Gebäude in Ost-Ghouta nach Überlebenden.

Im Herbst haben Russland, Iran und die Türkei mit Rebellengruppen in Syrien vier sogenannte Deeskalationszonen vereinbart. Das Ziel: den seit 2011 andauernden Syrienkrieg einzufrieren. Das Gegenteil ist geschehen: Vor allem in Ost-Ghouta, einer Vorstadt von Damaskus, und in der Provinz Idlib haben Kriegshandlungen zuletzt immer mehr Opfer gefordert.

„Wenn der Tod die Spitze erreicht, sind die Gräber zu klein“, heißt es in einem syrischen Sprichwort. Es trifft auf Ost-Ghouta zu. Online-Videos zeigen chaotische Szenen: Menschen kommen panisch aus den Häusern gelaufen; die Verletzten, darunter auch Kinder, werden in Fahrzeuge gelegt, während in der Nähe Detonationen von Bomben zu hören sind. Seit Tagen wird die Gegend von Kampfjets der russischen Luftwaffe und der Luftwaffe der Regierung von Präsident Baschar al-Assad attackiert. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat alleine am Donnerstag 59 tote Zivilisten gezählt, darunter 15 Kinder. Ost-Ghouta ist genauso wie die heftig umkämpfte Provinz Idlib in Norden des Landes eine der beabsichtigten Deeskalationszonen. Es sind weitgehend von Rebellengruppen dominierte Gebiete. Das Regime in Damaskus sieht sich seit dem Sieg von Aleppo vor etwa einem Jahr auf der Siegerstraße und versucht im Verbund mit Russlands Luftwaffe und von Iran kontrollierten Milizen, die restlichen Widerstandsnester auszunehmen. Die Situation ist so dramatisch, dass die Vereinten Nationen zu einer sofortigen Feuerpause aufgerufen haben. Panos Moumtzis der regionale UN-Koordinator für die humanitäre Angelegenheiten in Syrien, sagt im Gespräch mit der RHEINPFALZ: „Wir haben dort ein dramatisches Anwachsen der Kampfhandlungen und der Not“ – die Deeskalationszonen seien in Wirklichkeit „Reeskalations-Zonen“. Die Folge: Humanitäre Hilfe gelange gar nicht mehr dorthin. Immer wenn ein Hilfskonvoi organisiert wird, erteile das Assad-Regime in Damaskus keine Genehmigung. „Seit zwei Monaten haben wir keinen Zugang bekommen“, klagt der UN-Koordinator. Allein im von der Opposition kontrollierten Ost-Ghouta leben 400.000 Menschen im andauernden Belagerungszustand. Insgesamt, so Panos Moumtzis, seien 2,9 Millionen Menschen betroffen, die „in solchen belagerten und für uns schwer zugänglichen Gebieten“ lebten. Die syrische Regierung rechtfertigt ihre Politik damit, dass es zwar die Vereinbarung über Deeskalationszonen gebe, der Kampf gegen als „terroristisch“ klassifizierte Gruppen wie die Al-Nusra aber weitergehen müsse. Hilfswerke und Menschenrechtler werfen Damaskus Heuchelei vor: Das Assad-Regime nehme zivile Opfer rücksichtslos in Kauf. Nicht einmal vor Krankenhäusern werde haltgemacht. Die UN können derweil auch keine Opfer aus den umkämpften Zonen herausholen, kritisiert Moumtzis. Dabei wäre Hilfe so nah: „Man müsste nur eine halbe Stunde mit dem Auto fahren und man hätte Zugang zu Krankenhäusern“, lässt der UN-Koordinator seinem Frust freien Lauf. Die Lage ist schon lange so verheerend, sagt Moumtzis. „Schon im vorigen Jahr konnten wir drei Viertel der Leute, die dort leben, nicht helfen, weil wir keine Genehmigung dafür bekommen haben“, blickt er zurück. „Und seit 10. Dezember haben wir nichts geliefert – null“, betont er. In der Provinz Idlib im Norden sei es nicht besser. „Was dort passiert, könnte auch bald Folgen für Europa haben. Denn die nächste Flüchtlingswelle droht“, warnt er. Zwei Millionen Menschen lebten in Idlib, dazu eine weitere Million Menschen, die aus anderen Teilen des Landes dorthin geflohen sind. Der UN-Koordinator versteht nicht, dass derlei Nachrichten inzwischen die internationale Gemeinschaft nicht mehr aufschrecken. „Die dortige humanitäre Lage war noch nie so dramatisch wie heute“, sagt er und nennt Zahlen: „Derzeit sind in Syrien 13 Millionen Menschen in einer unmittelbaren humanitären Notsituation. Es gibt 5,3 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern. Sechs Millionen Menschen sind im Land auf der Flucht, allein in Idlib seit Januar über 300.000 Menschen.“

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