Kommentar Streiks: Deutschland erlebt kämpferische Zeiten

Gerade erst fielen bei der Lufthansa viele Flüge streikbedingt aus
Gerade erst fielen bei der Lufthansa viele Flüge streikbedingt aus

Offensichtlich sind derzeit viele Menschen bereit, für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen auch zu streiken.

Erst standen die Züge still, dann die Busse – und jetzt blieben viele Flugzeuge am Boden: In Deutschland, diesen Eindruck gewinnen viele Menschen, wird derzeit permanent irgendwo gestreikt.

Richtig an dieser Beobachtung ist, dass der Verkehrssektor zu Land und in der Luft seit einiger Zeit von Arbeitskämpfen besonders stark betroffen ist. Und wenn hier gestreikt wird, bekommen es weite Teile der Bevölkerung – Schüler, Pendler, Geschäftsreisende, Urlauber – direkt zu spüren. Dafür reicht, dass ein paar tausend Lokführer oder Busfahrer die Arbeit niederlegen. Dagegen trifft ein Arbeitskampf in der Metall- und Elektroindustrie mit möglicherweise Hunderttausenden im Ausstand zwar die Branche, hat aber kaum unmittelbare Folgen für Dritte. Und so lag beispielsweise laut Statistischem Bundesamt die Anzahl der streikbedingten Ausfalltage im verarbeitenden Gewerbe 2022 zwar weit über dem Wert im Verkehrssektor. In der Öffentlichkeit wird dies angesichts der unterschiedlichen Auswirkungen jedoch ganz anders wahrgenommen.

Beschäftigte mit mehr Selbstbewusstsein

Zugleich ist festzustellen, dass nicht zuletzt im Dienstleistungssektor die Gewerkschaften ihre Mitglieder inzwischen schon in einem sehr frühen Stadium von Tarifrunden zu Warnstreiks aufrufen. Diese Bereitschaft, rasch zu eskalieren, speist sich aus der wohl zutreffenden Annahme, dass die Beschäftigten in Zeiten hoher Inflation und damit sinkender Kaufkraft eher bereit sind, für mehr Geld auf die Straße zu gehen. Bei vielen Mitarbeitern dürfte dabei neben dem Wunsch nach einem Lohnplus auch der Frust über die als schlecht wahrgenommene generelle Lage eine Rolle spielen. Da bietet ein Streik eine willkommene Gelegenheit, einer allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.

Zudem wissen Gewerkschaften und Beschäftigte, dass ihnen der demografische Wandel momentan – und wohl noch auf längere Zeit – in die Hände spielt. Wenn Unternehmen und Behörden überall im Land händeringend Arbeitskräfte suchen, stärkt dies das Selbstbewusstsein derer, um deren Arbeitskraft gebuhlt wird. Dann lassen sich plötzlich auch Beschäftigtengruppen aktivieren, zu denen Gewerkschaften in früheren Zeiten nur schwer Zugang gefunden haben.

Sinnvoll wären mehr Schlichtungsverfahren

Was den Beschäftigten zugute kommt, ist aus Sicht der von Arbeitskämpfen Betroffenen – ob nun Privatpersonen oder Unternehmen – oft lästig, gar schädlich. Prompt werden wieder Stimmen laut, die das Streikrecht mehr oder weniger stark regulieren wollen. Mal abgesehen davon, dass jede Regierung, die dergleichen versuchen würde, garantiert in einen Großkonflikt mit den Gewerkschaften hineinsteuern würde: Tarifautonomie und Streikrecht sind keine Accessoires für schönes Wetter, die man, wenn es mal etwas rauer wird, zur Seite räumt oder zurechtstutzt.

Sinnvoll wäre es aber, wenn zumindest Schlichtungsverfahren, die es in vielen Bereichen bereits gibt, flächendeckend verabredet würden. Zugleich sollte sich manche Gewerkschaft die Frage stellen, ob es auf Dauer wirklich verantwortbar ist und der Sache – und nicht vorrangig der Mitgliedergewinnung – dient, zum Arbeitskampf aufzurufen, noch ehe die Verhandlungen wirklich begonnen haben.

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