Politik Pro & Contra: Soll Erdogan als Staatsgast empfangen werden?

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Ist der Staatsbesuch trotz der aggressiven Rhetorik des türkischen Staatspräsidenten gegenüber Deutschland angemessen und sinnvoll?

PRO

Von Hartmut Rodenwoldt, Berlin

„Faschisten“, „Nazi-Methoden“ – keine Schmähung ist Erdogan zu dümmlich, wenn er zum Propagandafeldzug gegen die Bundesrepublik bläst. Vielleicht beruhigt es ja: Deutschland ist nicht das einzige Land, das Erdogan mit Tiraden überhäuft. Daher: Cool bleiben, soll er doch! Aber muss man wirklich mit dem reden? Doch, Staats- und Regierungschefs schon. Und warum?

Länder müssen miteinander auskommen

Erstens: Länder können sich Nachbarn und Nachbarregionen nicht aussuchen wie Freunde. Sie müssen miteinander auskommen. Punkt. Die Türkei ist eine Nachbarregion Europas und damit Deutschlands. Mit Folgen: Die Länder sind miteinander verwoben – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch, menschlich. In der deutsch-türkischen Leistungsbilanz standen 2017 auf der deutschen Habenseite 27,6 Milliarden Euro, auf der türkischen 21,9 Milliarden Euro. Sicherheitspolitisch sind die Türkei und Deutschland in der Nato verbunden. Und menschlich? 2017 lebten in Deutschland 1,5 Millionen türkische Staatsbürger. Von den 18,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund haben viele türkische Wurzeln. Vor diesem Hintergrund gibt es jenseits der Tiraden und unterhalb des Radars der Öffentlichkeit vieles zu regeln zwischen beiden Ländern.

Wir haben mit dem Autokraten Erdogan paktiert 

Zweitens: Staaten haben Interessen. Konkret kann man das am Beispiel der Flüchtlinge nachzeichnen: Zuerst waren wir willkommenstrunken. Dann sorgten wir uns – inzwischen ernüchtert – ob der vielen Fremden. Weil aber die Deutschen die Guten sind und nicht die Bösen (wie die geschmähten Zäunebauer in Ungarn, Mazedonien oder Bulgarien), haben wir mit dem Autokraten Erdogan paktiert: Möge der sich doch die Hände schmutzig machen und uns die Flüchtlinge vom Hals halten für ein paar Silberlinge. Erdogan hat geliefert. Er hat unsere Interessen bedient. Im Monat Oktober 2015 hat die EU-Grenzagentur Frontex auf der östlichen Mittelmeerroute 109.671 illegale Grenzübertritte registriert, im Mai 2018 waren es nur noch 1367. Damit Erdogan auch künftig Flüchtlingsboote daran hindert, von der türkischen Küste Richtung EU abzulegen, sind die Gesprächsbrücken zu pflegen. Das mag man schelten als rückgratlose Politik. Man kann es aber auch Interessenvertretung nennen. In der Realpolitik kommt die Moral gelegentlich unter die Räder.

Ein Arbeitsbesuch wäre wohl zu wenig

Übrigens: Was wäre gewonnen, wenn Staats- und Regierungschefs nicht miteinander redeten? Eine der wichtigsten Lehren aus der europäischen Geschichte ist doch, miteinander zu verhandeln, bis der Arzt kommt. Aber muss es denn gleich ein Staatsbesuch mit allen Ehren sein? Vermutlich. Denn zu einem profanen Arbeitsbesuch bei Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel würde sich der ehrpusselige Herr Präsident vermutlich gar nicht mehr aufmachen.

CONTRA

Von Winfried Folz, Berlin

Das ist zu viel der Ehre: Es gibt keinen Grund, dem autoritär regierenden türkischen Staatspräsidenten den Roten Teppich ausrollen, ihn mit militärischem Zeremoniell zu empfangen und ihm eine Tischrede beim Staatsbankett zu widmen. Nein, einem Autokraten, der sein Land mit Zensur, Willkür und Vetternwirtschaft regiert, sollten die höchsten protokollarischen Ehren, die es in Deutschland gibt, nicht zuteil werden. Staatsbesuche sind „Ausdruck der Qualität der bilateralen Beziehungen“, erklärt das Bundespräsidialamt. Schon allein diese Definition schließt einen Staatsbesuch Erdogans aus.

Fünf Deutsche sind aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert

Zu Hause verfügt der türkische Staatspräsident über eine enorme Machtfülle. Er benutzt sie dazu, Wissenschaftler, Staatsbedienstete und Journalisten hinter Gitter zu bringen. Fünf deutsche Staatsbürger sind aus rein politischen Gründen inhaftiert und gelten als Geiseln der türkischen Außenpolitik. Viele türkische Journalisten können ihren Beruf nicht mehr ausüben oder wurden unter fadenscheinigen Gründen weggesperrt. Das deutsch-türkische Verhältnis hat in den vergangenen Jahren sehr gelitten, wofür Erdogan verantwortlich ist. Er treibt einen Keil zwischen die Deutsch-Türken und die Deutschen – mit der Folge, dass sich türkisch-nationalistische Parallelgesellschaften aufbauen. Gerade hat Erdogan schamlos die Affäre um den deutschen Ex-Nationalspieler Mesut Özil für seine Zwecke instrumentalisiert und ein Deutschlandbild gezeichnet, das von Rassisten geprägt ist.

Ein Staatsbesuch böte die schönste Bühne für Erdogans Propaganda

Viel Porzellan wurde von dem türkischen Machthaber schon zerschlagen. Bereits vor zehn Jahren forderte er in Köln vor 20.000 Türken und türkischstämmigen Deutschen dazu auf, sich nicht allzu sehr in Deutschland zu assimilieren. Ein paar Jahre später befand er, dass es besser sei, wenn Kinder türkischer Eltern in Deutschland zuerst Türkisch lernten und später erst Deutsch. Und im April 2017 – als Deutschland für türkische Politiker Auftrittsverbote verhängte, die für das türkische Referendum über eine umstrittene Verfassungsreform werben wollten – warf Erdogan der Kanzlerin „Nazi-Methoden“ vor. Er hat sich nie dafür entschuldigt. Nun möchte er als Staatsgast mit maximalem Protokoll empfangen werden? Käme es dazu, hätte Erdogan die schönste Bühne für seine Propagandazwecke: Seht her, was die Deutschen alles tun, um mich zu ehren.

Gestelzter Pomp und falsches Lob sind fehl am Platz

Es geht auch anders. Weil es viel zu bereden gibt, können sich Erdogan und die Kanzlerin zu Arbeitsgesprächen treffen. Die Türkei ist wie Deutschland ein Nato-Staat, mit der EU wurde ein Flüchtlingspakt geschlossen, die wirtschaftlichen Beziehungen sind eng, in der Abwehr des Islamischen Staates ist man sich einig. Nichts spricht dagegen, diese Themen intensiv zu erörtern. Doch gestelzter Pomp und falsches Lob für diesen Staatspräsidenten sind fehl am Platz.

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