Politik Leitartikel: Eskalation droht

Iran versteht den Trümmerstaat Syrien offenbar als Aufmarschgebiet

gegen Israel. Die Verschiebung der Kräfteverhältnisse lässt einen Krieg

in der Region wahrscheinlicher werden. Netanyahu ruft nicht, wie bisher

üblich, den US-Präsidenten an,

sondern den Kremlchef.

Friedensnobelpreisträger Shimon Peres, der frühere israelische Staatspräsident und Premierminister, hat jahrzehntelang von einem „Neuen Nahen Osten“ geträumt. Sein Traum, dass die Araber/Muslime der Region und die Israelis/Juden in Frieden leben, hat am Wochenende dem Alptraum (nicht nur aus israelischer Sicht) eines Nahen Ostens mit neuen Machtfaktoren und Kriegsparteien Platz machen müssen. Denn die beiderseitigen Luftangriffe waren weit mehr als nur eines der größeren Geplänkel, wie sie in der Krisenregion immer wieder vorkommen. Fast alles an dieser Entwicklung ist zum ersten Mal geschehen und setzt daher Ausrufezeichen. Am Anfang steht der erste Einsatz iranischer Drohnen gegen Israel – ob zum Zwecke eines Angriffs oder „nur“ der Aufklärung dienend, ist dabei nicht wichtig. Erstmals auch seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges vor fast acht Jahren wurde die einen Vergeltungsangriff fliegende israelische Luftwaffe durch die in Syrien stationierte Luftabwehr massiv beschossen. Und dies zum ersten Mal über israelischem Territorium. Dabei gelang es der syrischen Seite erstmals seit Jahrzehnten, ein israelisches Kampfflugzeug abzuschießen. Damit ist die absolute israelische Lufthoheit über den Teil Syriens, den Israels Premier Benjamin Netanyahu und der russische Präsident Wladimir Putin (neben Libanon) als israelische Aktionssphäre ausgehandelt haben, beendet. Um diesen Anspruch dennoch aufrechtzuerhalten, flogen die Israelis daraufhin nicht weniger als zwölf Angriffe auf syrische und iranische Ziele, in einem Ausmaß wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr. Insgesamt aber muss man Netanyahu und auch seinem sich einer noch militanteren Rhetorik bedienenden Verteidigungsminister Avigdor Lieberman attestieren, dass sie – wohl unter dem Einfluss der besonnenen Militärs – angemessen reagiert haben und sich offensichtlich bemühen, eine Eskalation zu verhindern. Damit stehen sie im Gegensatz zu gewissen ultranationalistischen Lautsprechern in der israelischen Regierungskoalition. Noch bedeutungsvoller und folgenschwerer als die militärische ist die politische Entwicklung. Netanyahu rief nicht, wie bisher noch immer üblich, den US-Präsidenten an, seinen Gesinnungsgenossen Donald Trump, sondern wählte die Nummer des Kreml. Damit ist klar, dass für absehbare Zeit die Russen in der Region politisch und militärisch das Sagen haben und nicht mehr die USA. Israel kann es offenbar allenfalls mit russischer Unterstützung schaffen, den rasch zunehmenden verheerenden Einfluss Irans wenigstens aufzuhalten, wenn schon nicht zurückzudrängen. Während man Putin nun Einfluss auf das Geschehen in der Region zugestehen muss, droht die iranische Expansion den Nahen Osten in einen erneuten Waffengang bis hin zu einem umfassenden Krieg zu stürzen. Teheran hat eine strategisch bedeutsame Achse von Iran bis Libanon und damit zum Mittelmeer geschaffen. Israel fühlt sich wegen der iranischen Vernichtungsankündigungen zu Recht in seiner Existenz bedroht. Mit iranischer Unterstützung bedrohen Hamas und Islamischer Dschihad von Südwesten (Gazastreifen) und die Hisbollah von Norden (Libanon) die Sicherheit Israels schon länger. Doch jetzt hat sich Iran mit modernst ausgerüsteten Kampftruppen in Syrien festgesetzt und versteht diesen Trümmerstaat offensichtlich als Aufmarschgebiet für den Kampf gegen Israel.

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