Politik Leitartikel: Die Zündler

Horst Seehofer, Markus Söder und Co. setzen den Meißel

ans Fundament des europäischen Einigungsgedankens.

Haben sie Erfolg, wäre die Zäsur von historischer Dimension. Die Politik Adenauers, Brandts, Schmidts, Kohls, Genschers, Waigels und Fischers würde in Frage gestellt.

Die Sätze haben es in sich. Ihre Aussagekraft ist gewaltig. Und vielleicht sollte jeder einen Moment lang innehalten, um zu ermessen, welch Geistes Kind sie sind. Die Sätze werden zwar gelegentlich zitiert, in der öffentlichen Diskussion spielen sie merkwürdigerweise aber kaum eine bedeutende Rolle. Vielleicht deshalb, weil sie auf den ersten Blick technokratisch unverständlich klingen – und damit verschleiern. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wird aus einer Sitzung des CSU-Teils der Unionsbundestagsfraktion sinngemäß so zitiert: Die Zeit des Multilateralismus werde abgelöst durch Einzelentscheidungen der Länder. Später hat er seine Aussage öffentlich wiederholt. Multilateralismus. Das ist ein Wortungetüm. Vereinfacht und umgangssprachlich bedeutet es: Viele setzen sich zusammen und suchen gemeinsam nach Lösungen. Das ist mühsam und manchmal frustrierend. Fast immer müssen alle Kröten schlucken. Aber wenn eine Lösung gefunden ist, ist sie meist in der Summe für alle vorteilhafter, als wenn jeder versuchte, seine Interessen vollumfänglich auf eigene Faust und auf Kosten anderer durchzusetzen. Die Welt bekommt es gerade mit. US-Präsident Donald Trump zerfleddert ein Abkommen nach dem anderen. Der „Handelskrieg“ ist nur eine der bedauerlichen Folgen. Russlands Präsident Wladimir Putin schert sich einen Dreck um die Nachkriegsordnung. Er verleibte sich die Krim ein. Für Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán gilt europäische Zusammenarbeit nur dann, wenn sie ihm nutzt. Insofern hat Söder ja recht, wenn er auf zunehmend nationalistische Tendenzen hinweist. Aber es ging dem CSU-Mann nicht darum, eine bedenkliche Entwicklung zu beschreiben. Und schon gar nicht darum, vor ihr zu warnen. Es ging ihm darum, den Irrlichtern Trump, Putin und Orbán folgen. Europa, so sagte es EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2015, sei in keinem guten Zustand. Inzwischen wissen wir: Es ist viel schlimmer. Weil Leute wie Söder, Orbán und andere willentlich die Axt anlegen an den europäischen Einigungsgedanken. Der Multilateralismus ist ein konstitutives Element des europäischen Zusammenschlusses. Er hat dem Kontinent Frieden, Freiheit, Stabilität und relativen Wohlstand für viele gebracht. Der Kontinent hat Strahlkraft. Die EU gilt anderen Weltregionen als nachahmenswertes Organisationsmodell. Setzte sich Söder durch, wäre – durch die deutsche Brille betrachtet – in letzter Konsequenz die Politik Adenauers, Brandts, Schmidts, Kohls, Genschers, Waigels und Fischers zumindest in Frage gestellt. Es wäre eine historische Zäsur. Und das alles nur, weil eine bayerische Regionalpartei dem Ausgang der Landtagswahl im Oktober mit vollen Hosen entgegenzittert und den Parteigranden die Fleischtöpfe der Macht verlockender erscheinen als das einzigartige europäische Projekt. Es geht an dieser Stelle ausdrücklich nicht darum, Horst Seehofers Pläne zu bewerten, bereits registrierte Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Es könnten stichhaltige Argumente sowohl pro als auch contra Seehofer aufgeführt werden. Aber Seehofer und Söder haben sich aufgemacht, den Meißel ans Fundament der Europäischen Union zu setzen. Das ist völlig inakzeptabel. Man hätte erwartet, die CDU würde ihrer Schwesterpartei öffentlich energisch entgegentreten statt leisetreterisch um die Ecke zu schleichen. Das hat mit Haltung zu tun. Die soll es ja noch geben in der Europapartei CDU, oder etwa nicht mehr?

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