Politik Leitartikel: Österreich wartet

100 Tage Kanzler Sebastian Kurz: Wirklich Neues ist nicht in die

Wege geleitet worden in der Alpenrepublik. Allen starken Worten

bei der Regierungsbildung zum Trotz. Der rechte Koalitionspartner FPÖ

ist die eigentliche Herausforderung

für den jungen Kanzler.

Rund die Hälfte der Österreicher ist nach 100 Tagen mit der Regierung des Jungkanzlers Sebastian Kurz zufrieden, der Rest ist es nicht oder hat keine Meinung dazu. Freilich sagen Umfragen nach so kurzer Zeit wenig aus. Gefestigt hat sich jedoch die Befürchtung, dass die rechtskonservative Koalition weiterhin ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist. Nicht nur, weil es dem erst 31-jährigen Kurz, ungeachtet seines politischen Talents, schlicht an Lebenserfahrung für den Umgang mit dieser Machtfülle fehlt. Vor allem bleibt die rechte FPÖ unberechenbar. Die Partei ist für Kurz die größte Herausforderung. So musste der Nichtraucher Kurz das Gesetz für ein generelles Rauchverbot kippen, weil das dem Raucher und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache nicht gefiel. Kurz überlässt auch die menschenrechtlich fragwürdige Migrationspolitik nahezu gänzlich der FPÖ, die zuletzt mit mutwilligen Abschiebungen, die Familien auseinanderrissen und auch Kranke nicht verschonten, von sich reden machte. Den Neonazi-Affären der FPÖ wie dem NS-Liederbuch-Skandal von rechtsextremen Burschenschaftern sieht Kurz ebenso schweigend bis teilnahmslos zu wie der anti-europäischen Nebenaußenpolitik Straches, der eine besondere Vorliebe für Despoten und Autokraten wie Wladimir Putin und Viktor Orbán hat. Seit die von Altnazis gegründete FPÖ an der Macht beteiligt ist, scheinen manche ihrer Funktionäre jede Scheu zu verlieren, ihre NS-Sympathien samt Verhöhnung von Holocaust-Opfern offen zu zeigen. Geradezu aberwitzig ist es, das Innenministerium einem FPÖ-Politiker anzuvertrauen, dem Kontakte zu rechtsextremen Kreisen nachgesagt werden, die der ihm unterstehende Verfassungsschutz als staatsfeindlich einstuft. Damit gefährdet diese Regierung die innere Sicherheit und macht Österreich international lächerlich. Kurz aber verweigert sich jeglichem Diskurs. Das verrät seine Art zu kommunizieren: Er bevorzugt Textbausteine, die er bis zum Überdruss wiederholt. Fragen beantwortet er selten mit informativen Details, stattdessen mit Belehrungen, die stets mit dem Anschein letzter Gewissheit und schnöselig daherkommen. Das freundliche Gesicht und die höflichen Manieren stehen im krassen Widerspruch zu seinem ausgeprägten Machtbewusstsein. Er hat offenbar keine Skrupel, die eigene Kanzlerkarriere auf eine EU-feindliche und hetzerische Schmuddelpartei abzustützen. Nach 100 Tagen in der Regierung strahlt das Marketing-Talent aus der Zeit des Wahlkampfs immer noch deutlich heller als die Befähigung zum Kanzler. Von Führung ist bei Kurz jedenfalls wenig zu bemerken, sein Erscheinungsbild prägen krampfige Koalitionsharmonie und Selbstlob. Auf den vollmundig angekündigten Aufbruch in neue Zeiten nach zwölf Jahren erschöpfter rot-schwarzer Regierung muss Österreich noch warten. An den Umbau des heillos verkrusteten föderalen Systems, in dem ein Milliardenpotenzial an Einsparungen schlummert, hat sich Kurz noch nicht herangewagt. Er stößt auf harten Widerstand der neun machtbewussten „Landesfürsten“, die mehrheitlich von der konservativen ÖVP gestellt werden und die sich vom Bund wenig dreinreden lassen. Gespart wird stattdessen bei jenen Menschen, die in der österreichischen Politik keine Lobby haben: Arbeitslose, ausländische Arbeitnehmer, Flüchtlinge. Kanzler Sebastian Kurz hat ein „neues Regieren“ versprochen. Nun ja, die Hoffnung stirbt auch in Österreich zuletzt.

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