Politik Jungkanzler mit ausgeprägtem Machtinstinkt

Seine stürmische Kanzlerkarriere stützt sich auf ein einziges Thema: Migration. Obwohl der Höhepunkt der Flüchtlingskrise längst überschritten ist, bringt das Thema Stimmen, und es lässt sich damit Stimmung machen. Die Europawahl 2019 naht. Und die Gastgeberrolle auf dem EU-Gipfel heute und morgen in Salzburg soll gleichsam die Reifeprüfung des Sebastian Kurz als Europapolitiker sein. So hat der österreichische Bundeskanzler auch den EU-Ratsvorsitz dem Ziel Machterhalt unterworfen: „Ein Europa, das schützt“, lautet das Motto. Doch vor wem oder was Europa beschützt werden müsse, spricht Kurz nicht klar aus – weil er Flüchtlinge und Migranten meint, aber vermeiden will, mit Ausländerhassern in einem Atemzug genannt zu werden. Nach der Schließung der „Balkanroute“ – was ohne den Deal der EU mit der Türkei nicht möglich gewesen wäre – machte sich Kurz umgehend an die „Schließung der Mittelmeerroute“. Wie das funktionieren soll, darüber tobt seit Monaten ein Streit innerhalb der EU, zu dem Kurz wenig mehr beiträgt als Überschriften: nationale Grenzkontrollen, Abriegelung der EU-Außengrenze „mit einem robusten Mandat für die Grenzschutzagentur Frontex“, Aufnahmelager in Nordafrika, massive Einschränkung des Asylrechts und dergleichen mehr. Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat, berichtet der „Spiegel“, ein Kurz-Papier zum Salzburg-Gipfel als „tendenziös“ kritisiert. Berlin habe verlangt, „verbale Spitzen und Entgleisungen“ herauszunehmen. Aber Kurz ist in der Migrationspolitik mit seinem rechten Koalitionspartner FPÖ durchaus auf gleicher Linie – nur verdeckt er die brutalen Konsequenzen der Abschottungspolitik mit höflichen Floskeln und seinem jugendlichen Charme. Laut Darstellung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sind in diesem Jahr schon 1500 Menschen im Mittelmeer ertrunken. 13.000 wurden nach Libyen zurückgeschickt, 8000 leben dort in Lagern unter schlimmen Bedingungen. Derlei spricht Kurz in seinen oft weitschweifigen, altklug tönenden Erklärungen kaum an, er lenkt den Fokus sofort auf Abwehrmaßnahmen und Sicherheitsfragen wie: „Wir müssen den Schleppern das Handwerk legen“, oder: „Wir müssen verhindern, dass Schiffe mit Migranten überhaupt in Nordafrika ablegen.“ Sein Kurs stößt selbst in seiner eigenen Partei, der konservativen ÖVP, und in der ihr nahestehenden katholischen Kirche auf besorgte Kritik. Christian Konrad, Ex-Raiffeisenboss und bis vor Kurzem Flüchtlingsbeauftragter der Regierung, fragt sich, „ob die ÖVP noch eine christliche Partei“ sei. Für den liberalen Ex-Parteichef Erhard Busek ist bereits „die christlich-soziale Grundhaltung der ÖVP entschwunden“. Kurz ist ein proeuropäischer Politiker, aber seine Überzeugung ist verhandelbar. Immerhin koaliert der erst 32-jährige Kanzler mit einer Partei, die im Europaparlament mit der rechtsradikalen Fraktion gemeinsame Sache macht, deren Ziel es ist, die EU von innen her zu schwächen, wenn nicht gar zu zerstören. Bei Regierungsantritt vor neun Monaten verlangte Kurz von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ein schriftliches Bekenntnis zu Europa, das dieser ohne Umschweife ablegte. Aber Strache kann getrost weitermachen wie bisher, solange Kurz Kanzler von seinen Gnaden ist. Auch mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán, einem engen Verbündeten der FPÖ, zeigte sich Kurz lange Zeit solidarisch. Zum Abbau des demokratischen Rechtsstaats mit all seinen negativen Begleiterscheinungen in Ungarn schwieg der Europapolitiker Kurz so beredt wie seine christdemokratische Parteienfamilie EVP. Auf Distanz zu Orbán ging Kurz erst, nachdem der EVP-Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber, angekündigt hatte, auch die deutschen Abgeordneten würden für ein EU-Strafverfahren gegen Ungarns autokratische Regierung stimmen. Als in Straßburg auch die ÖVP-Abgeordneten gegen Orbáns Autokratie votierten, schimpfte die ungarische Regierungspropaganda Kurz „Soros-Söldner“. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der derzeitige EU-Ratsvorsitzende das als Kompliment auffasst.

x