Politik JFK – der Mythos lebt

Kontrahenten des Kalten Krieges in Zwergengestalt in der Ausstellung „JFK 100“ in der Presidential Library in Boston: John F. Ke
Kontrahenten des Kalten Krieges in Zwergengestalt in der Ausstellung »JFK 100« in der Presidential Library in Boston: John F. Kennedy (rechts) und Nikita Chruschtschow, Partei- und Regierungschef der Sowjetunion.

Keinen anderen Präsidenten ihrer jüngeren Geschichte haben die Amerikaner nach seinem Tod mehr gefeiert als John F. Kennedy. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden – und die Erinnerung fällt umso wehmütiger aus, als derzeit einer im Weißen Haus residiert, der in vielem ein Gegenbild zu Kennedy abgibt.

Es ist nur ein Haus, aber es ist auch eine Pilgerstätte. Drei Stockwerke, rote Backsteinfassade, die Fensterläden in irischem Grün, davor stehen Wallfahrer, die sich nicht ganz sicher sind, ob die Angaben in den Kennedy-Broschüren stimmen. Zumal die Villa nebenan, zwei steinerne Löwen vor dem Eingang, viel mehr hermacht als das von außen schlichte Domizil mit der Adresse 3307 N Street NW. Stimmt alles, hier lebten John und Jacqueline Kennedy, bevor sie am 20. Januar 1961 ins Weiße Haus umzogen. Ein Stück die stille Straße im Stadtteil Georgetown hinunter liegt Martin’s Tavern, nur eine Kneipe, aber unverzichtbare Station auf dem Weg der Kennedy-Pilger. An einem Tisch am Fenster soll Jack, wie Amerikaner Leute mit dem Vornamen John gern nennen, der gerade aus London zurückgekehrten Reporterin Jacqueline Lee Bouvier einen Heiratsantrag gemacht haben, am 24. Juni 1953. Drei Wochen zuvor war Elizabeth II. gekrönt worden, und Jackie hatte für die Zeitung „Washington Times Herald“ darüber berichtet. Im Januar 1961, auch das gehört zum Legendenschatz in Martin’s Tavern, soll Jack in seinem Stammlokal den ersten Entwurf der Rede geschrieben haben, die er zur Amtseinführung halten wollte. Auf gelbem, liniertem Papier, wie es in den USA Anwälte verwenden, um Notizen zu machen. „Ich bin ein Idealist ohne Illusionen“, soll er der jungen Frau Bouvier übrigens irgendwann bei einem Rendezvous gesagt haben, als die ihn fragte, wie er sich definiere. John F. Kennedy wäre heute hundert Jahre alt geworden. Das biblische Alter passt nicht recht zum Gedenken an einen Mann, der das Image eines jugendlichen Energiebündels pflegte, obwohl er ein chronisches Rückenleiden hatte. Als Kennedy am 22. November 1963 in Dallas ermordet wurde, war er 46 und hatte noch kein graues Haar. So hat man ihn bis heute in Erinnerung, als wäre das Bild festgefroren. Auch das, glaubt Robert Dallek, die Kennedy-Koryphäe unter Amerikas Historikern, begründet die spätere Verklärung. Jedenfalls dauert es selten lange, bis das Wort Camelot fällt, wenn von JFK die Rede ist. Camelot, der Titel eines Broadway-Musicals über das romantische Reich des Sagenkönigs Artus. Keinen anderen Präsidenten ihrer jüngeren Geschichte haben die Vereinigten Staaten postum derart gefeiert, vielleicht abgesehen von Ronald Reagan, den die Konservativen auf einen Denkmalssockel stellen. Der Mythos lebt, und die Gründe dafür hat Jacks Neffe Stephen Kennedy Smith pünktlich zum Jubiläum in dem 494 Seiten dicken Buch „JFK: A Vision for America“ zu ergründen versucht. In der Rolle des scharfsinnigen Zeitzeugen kommt dort der Pulitzer-Preisträger Norman Mailer zu Wort. Dass Kennedy jung und schön war und seine Frau attraktiv, schrieb Mailer in einem vor 54 Jahren gedruckten Essay, „waren keine nebensächlichen, zufälligen Details, sondern neue, wichtige politische Tatsachen“. Amerika sei nun einmal ein Land von Individualisten und schon deshalb auf der ständigen Suche nach Helden. Nirgendwo sonst werde die aufklärerische Erzählung der Renaissance, wonach in jedem Menschen das Potenzial des Außergewöhnlichen schlummert, leidenschaftlicher gepflegt als hier. „Und Kennedy war ein Held, wie ihn Amerika brauchte, passend zu seiner Zeit.“ Geboren am 29. Mai 1917 in Brookline, einem Villenvorort Bostons, war John Fitzgerald Kennedy der zweite Sohn einer Familie, die schließlich neun Kinder haben würde. Sein Vater Joseph scheffelte an der Börse ein großes Vermögen. Vor Ehrgeiz brennend, benutzte er Geld und Einfluss, um für seine Söhne Türen in der Politik aufzustoßen. Joe junior, der Älteste, dem er am meisten zutraute, stürzte im Zweiten Weltkrieg mit einem Militärflugzeug über dem Ärmelkanal ab. An seiner Stelle machte der Zweitgeborene Karriere, John F., lange belächelt als dandyhafter Schürzenjäger. 1960 gewann er die Präsidentschaftswahl, und saß als erster Katholik am Schreibtisch des Oval Office. Den Ausschlag gab wohl, dass er das damals junge Medium Fernsehen besser beherrschte als sein Rivale Richard Nixon – so wie Donald Trump mehr als fünfzig Jahre später am besten mit Twitter umzugehen wusste. Rhetorisch setzte Kennedy Glanzpunkte, etwa bei seiner Inauguration: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst.“ Unter Kennedy entstand das Peace Corps, dessen Freiwillige von Belize bis Burkina Faso Entwicklungshilfe leisten. Und es war Kennedy, der das verwegen klingende Ziel verkündete, bis Ende der 60er Jahre einen Menschen auf dem Mond landen zu lassen. Deswegen sprachen manche von einem zweiten Kennedy, zumindest von einem Kennedy auf Kredit, als Barack Obama mit seinem „Yes, we can“ alten Pioniergeist beschwor. Das erste weltpolitische Abenteuer des jungen Präsidenten mündete im April 1961, als kubanische Exilanten mit Hilfe der CIA Fidel Castro zu stürzen versuchten, in eine Blamage. Die Invasion in der Schweinebucht scheiterte kläglich, woraus Kennedy die Lehre zog, sich nie wieder leichtgläubig auf seine Geheimdienste zu verlassen, die einen Volksaufstand in Havanna prophezeit hatten. Im Oktober 1962, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationierte und die Welt auf den Abgrund eines Nuklearkonflikts zutaumelte, hörte der Präsident nicht auf die Hardliner unter seinen Generälen, die zu einem Angriff auf die Insel rieten. Der Poker endete mit einem klassisch realpolitischen Deal: Moskau zog seine Raketen von Kuba ab, Washington Raketenstellungen aus der Türkei. Letzteres musste allerdings geheim bleiben, wollte Kennedy doch mit Blick auf die Scharfmacher daheim als Sieger im Nervenkrieg gelten. Im Juni 1963 hielt er vorm Rathaus Schöneberg eine umjubelte Rede, gipfelnd in den legendären Worten „Ich bin ein Berliner“. Des Deutschen nicht mächtig, hatte er sich in angelsächselnder Lautschrift auf einer Karteikarte notiert, wie er es auszusprechen hatte: „Ish bin ein Bearleener“. Daraus wurde ein solcher Erfolg, dass Kennedy scherzte, er würde seinem Nachfolger jederzeit raten, in Zeiten der Entmutigung einfach nach Deutschland zu reisen. Nach Vietnam entsandte er Tausende Militärberater, um die prowestliche Regierung des Südens zu stützen, einen Truppeneinsatz in großem Stil befahl er allerdings nicht. Ob auch Kennedy im vietnamesischen Sumpf versunken wäre wie Nachfolger Lyndon B. Johnson? Ob ihn der Krieg entzaubert hätte? Darüber zerbrechen sich Historiker bis heute den Kopf. Buchautor Stephen Kennedy Smith war sechs, als sein Onkel mit einer Kinderschar im Golfwägelchen dahinraste, „so draufgängerisch, dass er uns alle zu Tode ängstigte“. Jetzt sitzt der Neffe im Nationalarchiv, einem jener nach römischem Vorbild errichteten Säulenbauten Washingtons. Er nimmt den Mythos JFK unter die Lupe. Versucht die Sehnsucht zu erklären. Und ohne Trump nur ein einziges Mal zu erwähnen, beschreibt er John F. Kennedy als Anti-Trump. Er sieht JFK als großen Freund bissiger Ironie, bissige Selbstironie inbegriffen. „Das Einzige, was uns überraschte, als wir ins Amt kamen, war, dass die Lage wirklich so schlimm ist, wie wir sie immer beschrieben hatten“, wird JFK von seinem Neffen zitiert. Mit sarkastischem Humor weiß der momentane Bewohner des Weißen Hauses nichts anzufangen. Trump fühlt sich angegriffen von den Medien, die zum Beispiel wahrheitsgemäß dokumentierten, dass die Zuschauerzahl bei seiner Feier zum Amtsantritt nicht annähernd heranreichte an die Anzahl der Gäste im Januar 2009, als Barack Obama zum ersten Mal als Präsident vereidigt wurde. Als Trump nicht durchkam mit den von seinem Sprecher verbreiteten „alternativen Fakten“, wurde er wütend. Auch Kennedy hat geflunkert, wenn es um Zuschauerzahlen ging. Einmal, nach einer Kundgebung im Wahlkampf 1960, hatte es sein Pressesekretär Pierre Salinger diesbezüglich stark übertrieben. Im Gegensatz zu Trump, der sich regelrecht verbiss in seine Version, schaffte Kennedy die Irritationen damals mit einem Witz aus der Welt. Plucky (so der Spitzname des Sprechers) zähle „immer die Nonnen, und dann multipliziert er das Ergebnis mit Hundert.“

Schlichte Backsteinfassade, irischgrüne Fensterläden: Hier lebten John und Jacqueline Kennedy, bevor sie ins Weiße Haus umzogen.
Schlichte Backsteinfassade, irischgrüne Fensterläden: Hier lebten John und Jacqueline Kennedy, bevor sie ins Weiße Haus umzogen. Die Adresse in Washington ist ein Muss für JFK-Wallfahrer.
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