Belarus Illegale Einreise über Polen: Mehr als 4300 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen

 Nahe dem polnischen Weiler Usnarz Gorny umringen bewaffnete Sicherheitskräfte im September eine Gruppe von Migranten, die von B
Nahe dem polnischen Weiler Usnarz Gorny umringen bewaffnete Sicherheitskräfte im September eine Gruppe von Migranten, die von Belarus aus auf EU-Gebiet gelangt sind.

Mehr als 4300 Migranten sind seit Anfang August unerlaubt über die polnische Grenze nach Deutschland gekommen. Sie wollen der Gewalt in ihrer Heimat entfliehen und hoffen auf ein Leben in Sicherheit.

Sonntagfrüh, kurz vor acht, in einem Wald bei Coschen in Brandenburg. Nahe der Neiße, der Grenze zu Polen, entdecken Bundespolizisten 19 Männer aus dem Jemen und aus Syrien. Eine Stunde später und 20 Kilometer weiter südlich bei Klein Gastrose sind es 25 Männer aus dem Irak. Alle ohne „erforderliche Dokumente für einen legalen Aufenthalt in Deutschland“, wie die Bundespolizei festhält. Alle kommen in Gewahrsam.

Für die 44 Männer ist es das Ende einer Odyssee aus dem Nahen Osten über Belarus durch halb Europa. Seit dem Sommer steigt die Anzahl der Migranten in Deutschland an: Mehr als 4300 Menschen kamen seit August über Belarus in die Bundesrepublik – davon fast 2000 allein im Oktober. In Brandenburg, Sachsen und Vorpommern füllen sich die Asylunterkünfte wieder. Es sei nicht dramatisch, aber womöglich erst der Anfang, meint Olaf Jansen, Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt. „Wir sehen keine Bemühungen, das zu stoppen.“

Reaktion auf EU-Sanktionen

Das zielt auf Alexander Lukaschenko. Der belarussische Machthaber, der die Opposition im eigenen Land mit brutaler Gewalt unterdrückt, hatte im Mai als Reaktion auf verschärfte Sanktionen der Europäischen Union angekündigt, Migranten nicht mehr an der Weiterreise nach Polen und ins Baltikum zu hindern. Die EU beschuldigt Belarus, die Menschen vielmehr in organisierter Form aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen, um Brüssel in Schwierigkeiten zu bringen. Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einem „hybriden Angriff, um Europa zu destabilisieren“.

Es gibt Tote an der Grenze

Die Regierung in Minsk weist das zurück und zeigt stattdessen auf die EU. Der belarussische Grenzschutz wirft Polen „Pushbacks“ vor, also die unrechtmäßige Zurückweisung von Menschen vom Boden der EU. Unbestritten ist, dass Polen, Lettland und Litauen versuchen, die EU-Außengrenze abzuschotten. Sie bauen Hunderte Kilometer Zaun. Polen verhängte im Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand. Helfer oder Journalisten dürfen nicht hinein. Mehrere Migranten starben in dem sumpfigen Landstrich. Pro Asyl spricht von brachialen Methoden, Amnesty International von Rechtsbruch. Doch Tausende finden trotzdem einen Weg.

Hoffnung auf medizinische Behandlung

Hussein und Saravan haben sich vor einem Monat aus dem Irak aufgemacht und stehen nun im kalten Wind auf dem Hof der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt. Hussein sagt, er habe einen Herzfehler und hoffe auf medizinische Behandlung. Saravan ist nach eigenen Worten ein ehemaliger Drogenfahnder der irakischen Polizei und fühlte sich zu Hause von Kriminellen bedroht. Aber Hussein räumt auch freimütig ein, dass er und seine Freunde vor allem die Armut hinter sich lassen wollen. „Sie wollen ein gutes Leben“, sagt der 27-Jährige über die jungen Männer, die um ihn herumstehen, alle in Jeans, Turnschuhen und mit Corona-Masken.

Wie also sind sie hierhergekommen? Über Belarus und Polen, sagt Saravan. Der 35-Jährige spricht selbst kein Englisch, sein Freund Hussein übersetzt die Geschichte: Die Freunde flogen zu sechst von Istanbul nach Minsk, dort riefen sie einen Kontakt im Irak an, der den Transport zur belarussischen Grenze organisierte. Dann ging es zu Fuß weiter. Polnische Grenzer hätten sie gefasst und geschlagen, sagen Hussein und Saravan, doch sie seien entwischt. Zehn Tage hätten sie im Wald herumgelungert, bis sie doch nach Polen reingekommen seien. Mithilfe von GPS-Daten habe ein Kleinbus sie gefunden, abgeholt und nach Deutschland gebracht. Das Ganze habe pro Person 1010 Euro gekostet. Nabil und Hassan, die ebenfalls über den zugigen Hof zwischen den Unterkünften in Eisenhüttenstadt schlendern, sprechen gar von 6000 Dollar pro Person, das sind fast 5200 Euro. Die beiden stammen nach eigenen Worten aus Syrien und kamen über den Libanon, Dubai, Minsk und Polen nach Deutschland. 15 Tage habe es gedauert, über weite Strecken zu Fuß. Sie sagen, sie wollten zu Hassans Bruder in Bayern.

Inzwischen kommen auch Familien

Der Leiter der Ausländerbehörde Eisenhüttenstadt, Jansen, hat in den vergangenen Wochen eine Veränderung registriert. Noch im August seien meist alleinreisende Männer gekommen, oft ausgemergelt, abgerissen und erschöpft. Inzwischen seien oft auch Frauen und Kinder dabei. Jansens Schlussfolgerung: „Es findet eine Professionalisierung statt.“ Die Schlepper organisierten sich offenbar immer besser.

Die EU versucht, die Route zu kappen. Anfang Oktober verkündete EU-Kommissarin Ylva Johansson, die Anzahl der über Belarus in die EU einreisenden Migranten sei deutlich zurückgegangen. Grund dafür sei, dass keine Flüge mehr von Bagdad nach Minsk gingen. Die irakische Luftfahrtbehörde bestätigte, dass Flüge vom Irak nach Belarus und Litauen „komplett gestoppt“ worden seien. Flüge nach Minsk starten jedoch auch von Istanbul, Taschkent, Dubai und von anderswo.

Bereits 10.000 Menschen harren in Polen aus

Selbst, wenn weniger Migranten bis in die belarussische Hauptstadt kommen sollten: In Deutschland wird die Anzahl der Ankünfte nach Jansens Einschätzung in den nächsten Monaten nicht abebben: „Nach informellen Informationen sind bereits über 10.000 Menschen in Polen“, sagt der Behördenleiter. Nach geltenden EU-Regeln – dem Dublin-Verfahren – wäre zwar Polen zuständig für etwaige Asylverfahren dieser Menschen. Deutschland könnte sie zurückschicken in das Land, wo sie zuerst EU-Boden betraten. In der Praxis sei das aber sinnlos, sagt Jansen: Die Menschen würden in Frankfurt über die Oderbrücke nach Polen gebracht – und kämen umgehend zu Fuß zurück.

Der 61-jährige Behördenleiter betont: „Es ist keine dramatische Lage, aber es ist eine harte Situation.“ Nach Brandenburg kamen Jansen zufolge im Oktober bisher 1400 Menschen über Belarus. „Wir haben bis zum Monatsende mit Sicherheit eine Größenordnung von 3500“, sagt er. 3500 Plätze ist auch die übliche Kapazität der Erstaufnahme. Man habe sie mit beheizten Zelten kurzfristig auf 4600 aufgestockt, wahrscheinlich werde man auf 5000 Plätze hochgehen können. Die Menschen würden aber recht schnell umverteilt in andere Bundesländer.

Die Europäer sollen Druck machen

Wie geht es weiter? Das CSU-geführte Bundesinnenministerium hält sich bedeckt. „Derzeit werden weitere Maßnahmen zur Verhinderung der illegalen Migration nach Deutschland mit unseren Partnern im In- und Ausland abgestimmt“, ist aus dem Seehofer-Ministerium zu hören. Details könne man nicht bekanntgeben. Jansen wünscht sich nun vor allem die Geschlossenheit der EU. „Die Europäer sollten Druck machen“, sagt der Behördenchef. Druck auf Lukaschenko, aber auch auf die Schlepper.

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