Meinung Gefährlicher Mythos

Adolf Hitler nach dem „Anschluss Österreichs“ vor der Hofburg in Wien: Die Menschen jubeln ihm zu.
Adolf Hitler nach dem »Anschluss Österreichs« vor der Hofburg in Wien: Die Menschen jubeln ihm zu.

Als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“ entzog sich Österreich einer Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit. Das hat Folgen bis heute. Bei den Nationalratswahlen könnte die FPÖ stärkste Partei werden.

In Österreich ist der Rechtsextremismus erstarkt. Derzeit ist die FPÖ stärkste politische Kraft – auf Kosten der demokratischen Parteien, die ratlos nach Rezepten dagegen suchen. Denn im Herbst stehen Nationalratswahlen an. Wieso war und ist in Österreich rechtsextremes Gedankengut weitaus hoffähiger als in Deutschland?

Eine umfassende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit mit nahezu allgemein akzeptiertem Schuldbekenntnis, wie es Deutschland vorgemacht hat, kam in Österreich nie zustande. Die öffentlichen Debatten verlaufen hier zyklisch und anlassbedingt, meist hitzig, wirr bis bizarr, um dann immer wieder einzuschlafen.

Grund hierfür, da sind sich Zeitgeschichtler ziemlich einig, ist der Opfermythos, dessen Ursprung im Jahr 1943 liegt. In der „Moskauer Deklaration“ (v)erklärte die Sowjetunion Österreich zum „ersten Opfer des Nationalsozialismus“, um es auf Dauer von Deutschland zu entfernen. Nach 1945 erhob die erste Nachkriegsregierung dankbar die Opferthese zur Staatsräson: Es war bequem, sich als der kleine Mittäter hinter dem deutschen Haupttäter zu verstecken. Damit wurde Aufklärungsarbeit blockiert.

Altnazis dürfen Partei gründen

Dass Millionen von Österreichern Adolf Hitler und den „Anschluss“ an das Deutsche Reich bejubelten, dass 1,5 Millionen ihrer Landsleute in der deutschen Wehrmacht dienten und eine überproportionale Anzahl an NS-Verbrechern stellten, dass rund 65.000 österreichische Juden ermordet wurden und über 30.000 Widerständler dem NS-Justizterror zum Opfer fielen – an all diese Abscheulichkeiten wollte man nicht länger erinnert werden. Im Vordergrund standen nach 1945 der Wiederaufbau und die Überlebensfähigkeit des Kleinstaates. ÖVP und SPÖ buhlten um das Stimmenpotenzial einer halben Million ehemaliger NSDAP-Mitglieder, weshalb Kriegsverbrecherprozesse selten waren. Sogar eine eigene Partei wurde den Altnazis gestattet – der Verband der Unabhängigen (VdU), aus dem die rechte FPÖ hervorging, die bis heute mit üblen Nazi-Sprüchen auffällt.

Wichtiger als die Aufarbeitung der unrühmlichen Vergangenheit war damals die Frage, wann die Truppen der vier Siegermächte wieder abziehen würden. Die Österreicher sahen in Amerikanern, Briten, Franzosen und Sowjets weniger die Befreier als vielmehr Besatzer, die ihnen die Unabhängigkeit vorenthielten. 1955 wurde Österreich wieder ein souveränes Land.

Etliche Affären rüttelten immer wieder am Opfermythos. Dessen Zertrümmerung gelang aber erst Mitte der 1980er Jahre, als US-Medien die Waldheim-Affäre aufdeckten. Kurt Waldheim, einst UN-Generalsekretär und dann Österreichs Bundespräsident, hatte in seiner Biografie seine NS-Vergangenheit in Jugoslawien verschwiegen. Aktive Beteiligung an Kriegsverbrechen konnte man ihm nicht nachweisen, jedoch hatte er als Stabsoffizier Kenntnis von Exekutionen. Bis zuletzt zeigte Waldheim nicht die geringste Spur von Schuldbewusstsein, stattdessen rechtfertigte er sich mit: „Ich habe nur meine Pflicht erfüllt.“ Es blieb dem sozialdemokratischen Kanzler Franz Vranitzky vorbehalten, 1991 im Wiener Parlament und danach in der israelischen Knesset erstmals einzugestehen, dass Österreicher nicht nur Opfer, sondern auch NS-Verbrecher waren.

Heute glauben einer Umfrage zufolge noch ein Viertel der stimmberechtigten Österreicher an den Opfermythos. Im Gegensatz zu den Deutschen, die größtenteils die kollektive Verantwortung akzeptiert haben, wurde sie von den Österreichern an offizielle Stellen delegiert – frei nach dem Motto: Dafür ist die Regierung zuständig.

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