Politik Flucht übers Mittelmeer wird immer gefährlicher

Das Risiko, bei der illegalen Fahrt über das Mittelmeer zu sterben, ist so hoch wie nie. In diesen Tagen ertrinkt nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) einer von sieben Zuwanderern auf der zentralen Mittelmeerroute. Im ersten Halbjahr 2018 ertrank einer von 19, im Vorjahreszeitraum bezahlte einer von 38 Menschen den Versuch, nach Europa zu kommen, mit seinem Leben.

Bisher ertranken in diesem Jahr damit mehr als 1400 Afrikaner und Asiaten auf dem Seeweg nach Europa. Damit nimmt das Sterben ein ungekanntes Ausmaß an. Die Tragödie wird deutlich, wenn man die Anzahl der Toten mit der Anzahl der irregulären Grenzübertritte vergleicht: Im bisher schlimmsten Jahr 2016 kamen 5096 Ertrunkene auf 362.753 Flüchtlinge und Migranten, in diesem Jahr kommen schon mehr als 1400 Tote auf nur 46.500 Zuwanderer. Bei dramatisch gesunkenen Zuwandererzahlen – Italien erreichen derzeit 80 Prozent weniger Menschen als noch vor einem Jahr – wird das tödliche Risiko immer größer. Die Gründe dafür sind darin zu suchen, dass sich gerade etwas im Zusammenspiel der Akteure auf der zentralen Mittelmeerroute ändert. Zu diesen gehören die Schlepper und die Küstenwache der EU-Staaten. Nicht nur Italien und Malta sind präsent, sondern auch Deutschland, Großbritannien sowie viele andere Nationen. Dazu kommen noch private Hilfsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) und die libysche Küstenwache. Ziel der EU ist, irreguläre Grenzübertritte möglichst zu unterbinden. Dafür rüstet sie die libysche Küstenwache auf, gibt ihr Schiffe und trainiert sie. Die Bemühungen zeigen Erfolg: Allein letzte Woche hat der libysche Küstenschutz 2500 Menschen, die sich auf meist seeuntauglichen Schlauchbooten aufgemacht hatten, wieder zurück nach Nordafrika gebracht. Im Juni waren es nach UNHCR-Angaben 10.971. Neu ist, dass Italien und Malta die seit Mitte 2014 praktizierte informelle Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Interessenverbänden wie Ärzte ohne Grenzen, Sea Watch und anderen Nichtregierungsorganisationen aufgekündigt haben. Italien und Malta haben für sie die Häfen dicht gemacht. Damit sind die Organisationen von Proviant und Treibstoff abgeschnitten und können zudem nicht mehr die Menschen, die sie aus Seenot gerettet haben, in der EU absetzen. Die nichtstaatlichen Organisationen fallen als Retter im Mittelmeer aus. Damit erklärt sich die hohe Anzahl der Ertrunkenen. Es hatte sich nämlich eine Arbeitsteilung zwischen den sogenannten NGO und der Küstenwache auf der zentralen Mittelmeerroute etabliert. Die EU-Behörden patrouillierten südlich der europäischen Gestade, die NGO waren dagegen näher an der libyschen Küste unterwegs, hielten meistens nur zehn bis 50 Kilometer Abstand. Etliche Hilfsorganisationen nahmen Schiffbrüchige nahe an der libyschen Küste auf, übergaben sie auf hoher See Schiffen der EU-Behörden, die die Flüchtlinge dann wiederum nach Sizilien und Lampedusa brachten. Darauf hatte sich die libysche Schlepper-Mafia eingestellt: Sie setzte die Zuwanderer zunehmend nur noch auf Schlauchboote, mit denen die Überfahrt nach Italien und Malta unmöglich zu schaffen ist. Damit zeichnet sich ein Muster ab: Je näher die Rettungsboote an die Küste kommen, wo die Flucht startet, desto weniger investieren die Menschenhändler in seetaugliches Gerät und umso gefährlicher wird es für die Menschen, die nach Europa wollen. Wenn die Flüchtlinge Glück hatten, wurden sie dann von den NGO geortet und gerettet. Unter Grenzschützern hört man, dass Fälle vorgekommen seien, bei denen NGO-Schiffe Zuwanderer nur 700 Meter von der libyschen Küste entfernt aufgenommen hätten. Dass NGO mit Schleppern gemeinsame Sache machen und verabreden, wann und wo Menschen in See stechen, wie in Italien gelegentlich behauptet wird, wird von EU-Diplomaten ausgeschlossen. Doch die NGO werden zunehmend dafür verantwortlich gemacht, dass das Geschäft der Schlepper so problemlos funktioniert. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron warf den NGO einen „schrecklichen Zynismus“ vor. Sie trügen dazu bei, die Gewinnmargen der Schlepper zu erhöhen. Vor der libyschen Küste sollen sich zuweilen die Boote der NGO und der libyschen Küstenwache eine „Hase und Igel“-Spiel geliefert haben, wer am schnellsten bei Schiffbrüchigen ist. Italien und Malta drangen daher massiv darauf, dass der EU-Gipfel jüngst die NGO in die Schranken weist: Im Gipfeldokument steht daher nun der Satz, dass in jedem Fall die Anweisungen der libyschen Küstenwache Vorrang haben. Festzuhalten bleibt: Das Verdrängen der NGO vor der libyschen Küste hat erhebliche Auswirkungen. Das UNHCR schätzt, dass 40 Prozent der Seenotrettung von NGO geleistet wurde.

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