LEITARTIKEL Antisemitismus: Der Hass auf „die Anderen“

 Rosen mit dem Schriftzug "#weremeber" (wir erinnern uns) liegen auf einer Stele im Berliner Holocaust-Mahnmal.
Rosen mit dem Schriftzug »#weremeber« (wir erinnern uns) liegen auf einer Stele im Berliner Holocaust-Mahnmal.

Was bringt Menschen dazu, Juden für alles Schlechte auf dieser Welt verantwortlich zu machen?

Die Antwort auf die Frage, warum zuerst bei der Corona-Pandemie und derzeit im Zuge des Krieges in Nahost Juden wieder einmal für alles Schlechte in der Welt verantwortlich gemacht werden, ist so einfach wie erschreckend. Antisemitische Vorurteile sind deshalb so omnipräsent und konnten so schnell wieder um sich greifen, weil sie niemals wirklich weg waren. Antisemitismus ist nach der NS-Zeit und dem Völkermord an Europas Juden nicht einfach verschwunden, auch wenn sich viele dies eingeredet haben.

Nach einer Phase in der Nachkriegszeit, in der man – in der Bundesrepublik wie in der DDR – die Naziverbrechen schlichtweg zu verdrängen versuchte, begann zumindest im Westen Ende der Sechzigerjahre so was wie Aufarbeitung: die 68er, die die Elterngeneration befragten und anklagten, die Auschwitz-Prozesse und die Einrichtung der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg öffneten zumindest einigen die Augen. Allerdings forderten auch damals schon viele, es müsse ein „Schlussstrich“ gezogen werden unter die unselige Vergangenheit.

In der DDR unter den Tisch gekehrt

In der DDR verbreitete die Staatsführung, Kommunisten hätten ja gegen Hitler gekämpft und könnten daher per se keine Antisemiten sein. Dass beispielsweise in allen kommunistischen Parteien im Machtbereich der damaligen Sowjetunion Anfang der 1950er Jahre offen antisemitische Säuberungen stattfanden und im Winter 1952/53 fast alle jüdischen Gemeindevorsitzenden und ein großer Teil der Mitglieder aus der DDR in den Westen flohen, wurde unter den Teppich gekehrt. Die Nazis waren doch alle im imperialistischen Westen, tönte die Propaganda.

Auch im wiedervereinigten Deutschland hat man dann viel zu lange weggeschaut. „Du Jude“ ist nicht erst seit Beginn der Kämpfe im Gazastreifen ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen. Und es wird beileibe nicht nur im viel gescholtenen Migrantenmilieu gebraucht. Synagogen, jüdische Kitas, Schulen, Altersheime und Museen haben seit langem Polizeischutz. Es ist unfassbar traurig und eine Schande für unser Land, dass so etwas nötig ist. Juden, die aus Deutschland nach Israel emigriert sind – egal welcher Generation sie auch angehören – , nennen als Gründe antisemitische Anfeindungen und das Gefühl, nicht willkommen zu sein in der Gesellschaft.

Mittelalterlicher Unsinn ganz aktuell

Seit zwei Jahrtausenden glauben offenbar Menschen in Zeiten des Umbruchs, der Krise oder des Konflikts, „die Juden“ würden von Umbruch, Krise oder Konflikt profitieren, hätten dies alles sogar ausgelöst. Sie seien Brunnenvergifter oder Christusmörder, tränken das Blut von Kindern, seien machtgierige Wucherer, Superkapitalisten und Umstürzler. Und wer jetzt über diesen mittelalterlichen Unsinn den Kopf schüttelt, der sollte nachlesen, was die Verschwörungsschwurbler von QAnon heute in den USA verbreiten. Es tröstet keinesfalls, dass nicht nur in Deutschland, sondern weltweit der Antisemitismus sein hässliches Haupt erhebt.

Und warum werden gerade die Juden als „Sündenböcke“ für alles Ungemach auf der Welt verantwortlich gemacht? Darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht, weil sie nach ihrer Vertreibung aus Judäa überall auf der Welt die Minderheit waren – die religiösen Außenseiter, auf denen man herumhacken konnte.

Unser Erbe aus der Steinzeit

Vielleicht liegt alles auch ein wenig an unserem archaischen Erbe. Seit den Zeiten der Jäger und Sammler definieren wir uns als Angehörige einer Gruppe immer in Abgrenzung zu den „anderen“, denn das macht uns scheinbar stark – sagt zumindest die Wissenschaft. Wenn dem aber wirklich so ist: Wird es dann nicht langsam Zeit, dass wir die Steinzeit hinter uns lassen?

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