Kaiserslautern Von Lebenslügen und einsamen Menschen

Verdi braucht vor allem eines: Stimmen. Das Pfalztheater hat sie, ganz exzellente sogar. Aber der „Rigoletto“, der am Samstagabend dort Premiere hatte, ist in Intendant Urs Häberlis Inszenierung mindestens ebenso hörens- wie sehenswert.

Nein, es braucht keinen Buckel, auch keine wüsten Orgien und erst recht keine realistische Schmuddelspelunke (höchstens ein bisschen Bühnennebel) im letzten Akt, um diese Geschichte des Narren, seiner Tochter und des misslungenen Mord an deren Liebhaber zu erzählen, die im Grunde von kranken Seelen und einsamen Menschen handelt. Freud und Ibsen also, statt Schicksalsdrama (Victor Hugo) und romantische Oper (Giuseppe Verdi)? Regisseur Urs Häberli und sein Ausstatter Marcel Zaba haben gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Markus Bieringer die Patina aus Tradition und Vorurteilen abgetragen, die sich seit der Uraufführung über den „Rigoletto“ gelegt hat. Behutsam genug, um nicht die vom Komponisten ja durchaus gewollte Popularität zu negieren (auch wenn das tiefe Blech am Premierenabend vereinzelt den Eindruck vermittelte, als wolle es mit der „Hm-ta“-Seligkeit italienischer Bandas konkurrieren). Entschlossen radikal, wenn es darum ging, Verdi gegen seine falschen Freunden zu verteidigen und das Zeitlose, immer Aktuelle dieses Repertoire-Renners nicht nur offen zu legen, sondern zugleich in spannendes und berührendes Theater zu verwandeln. In Marcel Zabas streng geometrischem dunklen Bühnenbild öffnen, schließen und verschieben sich die Rechtecke und geben Blicke frei: in die Weite des Ballsaals, in dem passend zum herzoglichen Bekenntnis zur Libertinage („Questa o quella“ – ob nun diese oder jene ...) sich Models auf dem Laufsteg präsentieren; in das Séparée, in das dem ja durchaus nicht unsympatischen Verführer seine Opfer doch eher freiwillig folgen; in die klaustrophobische Enge des Käfigs, in dem Rigoletto seine Tochter vor der Welt da draußen und ihren Gefahren sicher glaubt; in das Wirtshaus des gedungenen Mörders Sparafucile und dessen Schwester Maddalena. In der farbigen Ausleuchtung von Manfred Wilking wirkt diese Bühne mitunter wie ein Gemälde des abstrakten Expressionismus, in dem sich am Ende Traum und Wirklichkeit gegenüberstehen und zugleich Rigoletto mit seiner Lebenslüge konfrontiert wird: Kein Sack, aus dem die vom Dolch Sparafuciles getroffene Gilda kriecht und in den Armen des Vaters ihr Leben aushaucht (eine von Spöttern gerne parodierte Szene). Rigoletto bleibt nahezu regungslos vor dem verschnürten Leichenpaket. Das Traumbild der toten Gilda verschwindet langsam und fast unmerklich hinter den weißen Laken in dem Rechteck, das einmal ihr Gefängnis war ... Ein poetisches Bild, das noch anrührender wird durch die berückend schöne Stimme von Judith Spiesser. Die junge Sängerin, die ganz am Anfang ihrer Karriere steht, hat ihr Studium bei Weltklasse-Bariton Wolfgang Brendel absolviert, dessen internationale Laufbahn einst am Pfalztheater begann. Höchst wahrscheinlich, dass die Schülerin dem Lehrer nun diesbezüglich folgt. Nirgendwo Schärfen, stattdessen makellose Koloraturen bis in die höchste Höhe und zugleich ein silbrig-warmes Timbre, in dem viel Seele mitklingt. Und dennoch ist ihre Gilda kein verschüchtertes Ding, das naiv in den Opfertod geht, sondern eine junge Frau, die ihren Weg aus der Misere selbstbewusst wählt. Die Sopranistin ist nicht die einzige, die diese Premiere zu einem Fest der Stimmen machte. Neben ihr begeisterte auch der kanadische Tenor Eric Laporte als Herzog von Mantua – nicht nur mit mühelosen und strahlenden Spitzentönen, sondern mit schier unglaublich langen Legatobögen, etwa zu Beginn des zweiten Aktes, wenn er den vermeintlichen Verlust der von den Höflingen geraubten Gilda beklagt („Parmi veder le lagrime“): ein sorgloser Schwerenöter, den mit einem Mal die Ahnung erfasst, dass es im Leben noch etwas anderes geben könnte. Zu jenen, die mit einer Lebenslüge leben und blind sind für die Zusammenhänge, gehört auch Rigoletto. Nicht der Fluch des Monterone oder die Tatsache, dass er als Außenseiter lebt, hat Schuld am Tod seiner Tochter, er selbst und seine Unfähigkeit, dies zu erkennen, sind es. Krum Galabov, der Sänger der Titelpartie, liefert ein packendes Rollenporträt, singt mit edlem Verdi-Bariton und – wenn’s darauf ankommt – auch mit Emphase, schien am Premierenabend allerdings ein wenig mit einer Indisposition zu kämpfen. Mit profundem Bass und geschmeidigem Mezzo vervollständigten Michael Hauenstein (Sparafucile) und Ludovica Bello (Maddalena) den Reigen der „Verdi-Stimmen“, nicht zu vergessen die vielen durchweg hochkarätig besetzten kleineren Partien und der von Ulrich Nolte einstudierte Chor – alle zusammen mit Brio und Verve dirigiert von Markus Bieringer, dem es zusammen mit dem Orchester des Pfalztheaters gelang, viele oft ungehörte Details der Partitur zum Klingen zu bringen (alles andere als Hm-ta!).

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