Kaiserslautern Hähnchenflügel und Suppe in allen Variationen

„Was soll ich noch hier?“ hat sich Erwin K.* gefragt, als er 1968 in der Tschechoslowakei geschieden wurde. Sieben Jahre war er verheiratet, die beiden Kinder, Sohn und Tochter, wurden bei seiner Ex-Frau in der Nähe von Prag groß. Weder Erwin K. noch seine Frau wollten die Scheidung, erzählt der heute 75-Jährige. Aber: „Ich war nicht gut genug für meinen Schwiegervater.“ Der war ein Bauer, Erwin K.s Vater nur Holzfäller. Und Erwin K. hatte Gießer gelernt. „Der Schwiegervater hat uns geschieden. Im Kommunismus geht das alles“, sagt er heute mit einem wehmütigen Lächeln. Vom Kommunismus hatte der 31-Jährige sowieso genug. Es war die Zeit des Prager Frühlings, als der Politiker Alexander Dubcek das Land demokratisieren wollte und 1968 am Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts scheiterte. Also beschloss Erwin K. seine Flucht, denn „wir durften nicht den Mund aufmachen. Da ist man gleich im Gefängnis gelandet. Das konnte man nicht aushalten.“ An der Grenze kannte sich Erwin K. aus, hatte er doch einige Wochen dort im Manöver verbracht. Wie genau er über die Grenze gekommen ist, verrät er nicht. Er schmunzelt nur. Aber die Flucht glückte und Erwin K. landete in einem Lager bei Nürnberg. Dort hörte er von der Möglichkeit, bei den Amerikanern in Kaiserslautern zu arbeiten, da würden Leute gesucht. 15 Jahre verdiente er sein Geld als Fahrer bei der Signalkompanie. Vor zehn Jahren wurde der 75-Jährige in Deutschland eingebürgert. Es geht ihm nicht gut heute, denn vor einem Jahr erlitt er einen Herzinfarkt, muss viele Medikamente nehmen. Sein Wohnzimmer hat er so eingerichtet, dass er sowohl auf der Couch als auch im Sessel ruhen kann. Mitte des Monats geht er mit seinem Konto regelmäßig in die Miesen, denn seine Rente ist klein, wird von Grundsicherung ergänzt. Jeden Monat werden einem guten Vorsatz zufolge 100 Euro auf ein Sparkonto abgebucht, doch Erwin K. holt sie sofort zurück, denn ohne die 100 Euro kommt er überhaupt nicht rum. Wenn es ihm gut geht, fährt er mit dem Fahrrad zur Bank: „Der Bus kostet vier Euro hin und zurück.“ Die sind nicht drin. Momentan benötigt Erwin K. einen neuen Gasherd mit Backofen. Verschmitzt erzählt er das, weil er weiß, dass er damit für Erstaunen sorgt: „Ich koche und backe.“ Das Wissen hat er seiner Mutter abgeguckt. Er zählt auf: Am vergangenen Samstag gab es Hähnchenflügelsuppe. Hähnchenflügel sind am billigsten, deshalb macht er daraus auch Gulasch. Häufiger jedoch gibt es Suppen: Kartoffel- oder Bohnensuppe. Heute hat er sich die Suppe vom Samstag aufgewärmt. Erwin K. freut sich schon aufs Backen. Er zeigt ein Rezeptheft für Weihnachtsplätzchen. Terrassenplätzchen, Gelee-Ringe und Haselnussmakronen hat er sich vorgenommen. Und: Zimtsterne. Er zeigt mit den Händen, wie er den Teig rollt und lächelt: „Der bappt.“ Erwin K. ist ein optimistischer Mann, der sich über die kleinen Dingen des Lebens freuen kann. Auch wenn er sagt: „Ich habe nicht viel zu lachen“, so schiebt er doch noch nach: „Aber ich lache.“ In der Tat: Er lacht. Und die Augen lachen mit.

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