Kaiserslautern Gerechtigkeit

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„Jetzt hör doch mal auf, Briegel“ ist vielleicht nicht ganz der Satz, den man sagen sollte, will man einen Mord an sich selbst verhindern. Aber was soll man sagen? „Lass es sein, du kommst ins Gefängnis, deine Frau fängt was mit einem anderen an und deine Kinder schämen sich für ihren verkorksten Vater!“ War dem Briegel doch egal, er war immer schon schwer von etwas abzubringen gewesen, ein sturer, rechthaberischer Kerl war er, selbstgerecht und schnell eingeschnappt. Obendrein hatte er keine Frau und keine Kinder. Aber Paragraf 20 des Strafgesetzbuchs auswendig gelernt, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefergreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Das hatte der Briegel aufgesagt und erklärt, er fühle sich doppelt berechtigt, mich umzubringen, zum einen wegen der Diagnose krankhafte seelische Störung, die er sich selbst gestellt hatte, zum anderen, weil er mich für diese Störung verantwortlich machte. Mich und Adrian Holle, genannt Frau Holle. Frau Holle hatte er bereits ins Jenseits befördert. Ich sollte folgen. Es war schwachsinnig, wirklich, aber genau darauf berief sich ja der Briegel. Und für mich wurde es eng. Es gibt Leute, die spüren sofort, wenn etwas faul ist, die haben ganz feine Antennen, den sogenannten sechsten Sinn, sie ahnen immerzu irgendwas. Ich gehöre nicht dazu, ich bin nicht so der große Ahner, ich dachte mir überhaupt nichts dabei, als der Briegel – den ich 20 Jahre nicht gesehen hatte – anrief, „Jörgi, alter Kumpel, wie geht’s, wie steht’s?“ in den Hörer plärrte und auf ein Treffen mit ihm und Frau Holle drängte. Einzig die Anrede „Jörgi“ versetzte mir einen Stich. So hatte mich schon ewig keiner mehr genannt. Ich war jetzt Jörg und hatte einen Catering-Service. Ich koche gern, bin aber nicht dick. Das war immer der Briegel gewesen, benannt von uns nach dem Fußballer Hans-Peter Briegel alias „Walz vun de Palz“. Wir fanden so was damals lustig, Spitznamen und so. Ich war immer ein bisschen neidisch auf Frau Holle und sogar auf den dicken Briegel gewesen, weil’s bei mir nur für Jörgi gereicht hatte. Will ich deshalb jemandem an die Gurgel und berufe mich auf Paragraf 20? Nein. Auf die Idee käme ich gar nicht. Wenn jemandem so was einfällt, dann dem Briegel. Der hat in der Schule schon seltsame Gedanken gedacht, so dass es weder mir noch Frau Holle komisch vorkam, dass er sich mit uns auf dem Dach eines verlassenen US-Militärgebäudes auf dem früheren Flugplatz treffen wollte. Da waren wir früher öfter über die Feuerleiter hochgeklettert, hatten uns an den Rand gesetzt, die Beine baumeln lassen, Bier getrunken und die Welt erklärt. Vor allem der Briegel hatte die Welt erklärt. Jetzt saß ich wieder neben dem Briegel auf dem Dach, meine Beine hingen über die Kante, meine Handgelenke waren hinter meinem Rücken mit Kabelbinder zusammengezurrt. 15 Meter unter uns auf dem Waschbeton lag Frau Holle und rührte sich nicht mehr. „Selbst schuld“ hatte der Briegel geknurrt, nachdem er Frau Holle vom Dach geschubst hatte. Das meinte er wirklich so, er hatte immer schon anderen die Schuld an allem gegeben. Und Frau Holle war immer schon, nun ja, eher der undiplomatische Typ gewesen. Nachdem der Briegel uns aufs Dach gelockt und nach mehreren Bieren mühelos mit dem Kabelbinder gefesselt hatte, eröffnete er uns, dass nun seine Rache folgen werde für das, was wir dem 20-jährigen Briegel angetan hatten, damals, beim Campingurlaub in der Bretagne. „Ihr habt mich gedemütigt, ihr habt immer auf mir rumgehackt, nur weil ich dick war, ihr habt mein Leben zerstört!“ rief er und wedelte mit dem Strafgesetzbuch, und da hätte Frau Holle besser mal den Mund gehalten statt dem Briegel genervt zu erklären, dass wir nicht wegen seiner Korpulenz auf ihm rumgehackt hätten, sondern weil er damals schon ein Arschloch war. Das war’s dann für Frau Holle, mehr sagte er an dem Abend nicht mehr. Und ich wusste, dass ich ab jetzt meine Worte äußerst sorgfältig wählen musste. Mehr als ein dünnes „Jetzt hör doch mal auf, Briegel“ kam aber nicht raus. Der Urlaub in der Bretagne, ich erinnerte mich. Mit Frau Holles VW Jetta, der die Farbe von grobkörnigem Senf hatte, waren wir in drei Etappen bis Concarneau getuckert und hatten dort auf dem Campingplatz Les Sables Blancs mein Igluzelt aufgeschlagen. Da es viel regnete und wir uns längere Gasthaus-Aufenthalte nicht leisten konnten, saßen oder lagen wir meist zu dritt im Igluzelt rum. Das hätte mit freundlichen Menschen schon für Spannungen gesorgt, mit dem dauerbeleidigten Briegel und dem überdirekten Frau Holle, der einer gewissen Susi wegen auch noch Liebeskummer hatte (sie hatte mit ihm Schluss gemacht, weil er ihr wahrheitsgemäß geantwortet hatte, dass er ihre Freundin Sandra hübscher fand als sie), war schlechte Stimmung garantiert. Nach einer Woche lagen die Nerven blank, wir stritten wegen Nichtigkeiten und hassten Frankreich. Eines Tages rastete der Briegel aus, weil er Frau Holle verdächtigte, das gemeinsam erworbene Klopapier zu bunkern, und wollte Frau Holles Rucksack durchsuchen. Es fiel der Satz „Dem Fettsack hau ich eine rein“, und einzig der Tatsache, dass die von mir zubereiteten Ravioli – ich kochte damals schon gerne – gerade fertig waren, war es zu verdanken, dass die beiden nicht aufeinander losgingen. Wir aßen schweigend, und tags drauf reiste der Briegel ab. Später erfuhren wir, dass er nach Hause getrampt war. Vier Tage brauchte er dafür. Danach sahen wir uns nicht mehr. Vorsichtig fragte ich den Briegel auf dem Dach, ob es die Sache mit dem Klopapier war, die aus seinem Leben einen solchen Schrotthaufen gemacht hatte. In den Händen hatte ich wegen der Kabelbinder schon kein Gefühl mehr. „Was für Klopapier?!“, meinte er scharf und dass er sich daran nicht erinnern könne. Wahrscheinlich, so erklärte er es sich und mir, weil es sich nur um eine winzige Episode handelte in einer langen Aneinanderreihung täglicher Erniedrigungen und Übervorteilungen, denen er, der Briegel, damals durch uns in der Bretagne ausgesetzt war. „Aber Briegel“, wollte ich einlenken, „so schlimm war es doch gar nicht, das Wetter war halt scheiße.“ Da schrie er „Was!?“ und: „Und was war mit den Duplos?!“ Der Briegel führte aus: Nach den Ravioli habe er damals noch eins von den bereits zu Hause gekauften Duplos essen wollen. „Und die zwei Zehnerpacks waren leer! Leer gefressen von euch! Wir hatten 20 Duplos mit, und von euch hatte jeder sieben, und ich hatte nur sechs!“ Und da, so der Briegel, habe er dann endgültig genug gehabt von unserem schlechten Charakter und davon, ständig von uns beschissen und beleidigt zu werden. Dieses Erlebnis sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte, es habe ihn zu einem misstrauischen Menschen gemacht, sein Leben negativ beeinflusst und ihn so mitgenommen, dass ihm fortan nichts mehr geglückt sei, und weil seine Therapeutin ihm geraten habe, die Sache endlich aufzuarbeiten, seien wir jetzt hier, auf dem Dach beziehungsweise unten auf dem Waschbeton liegend. Meinen zögerlichen Einwand, dass es ja recht schwierig gewesen wäre, die 20 Duplo gerecht auf drei Leute aufzuteilen, das wären dann ja 6,666666666666667 Duplo für jeden gewesen, und wie soll man das machen, ließ er nicht gelten. „Und warum habe ich kein siebtes Duplo bekommen, hä? Warum hat nicht einer von euch nur sechs gefressen?! Nein, nein, Jörgi, komm mir jetzt nicht so, das war volle Absicht von euch damals!“, so kreischte er, kam das Strafgesetzbuch schwenkend auf mich zu, fiel über den Bierkasten und das Dach runter auf den Waschbeton, direkt neben Frau Holle, in der linken Hand noch eine Flasche Bier. Da es sich ja um ein verlassenes Flugplatz-Gebäude handelte, dauerte es bis drei Uhr nachmittags am nächsten Tag, bis ein Jäger uns fand. Frau Holle hat wider Erwarten schwer verletzt überlebt, er ist gerade aus der Reha gekommen und kann wieder einigermaßen laufen. In seiner Erinnerung fehlt fast ein halbes Jahr, von dem Abend mit dem Briegel weiß er nichts mehr. Ich hatte nichts außer einer nassen Hose und abgestorbenen Händen. Ich habe das mit dummen Spielchen erklärt, die wir auf dem Dach gemacht hätten, auch wenn mich die Leute danach mehr als schief ansahen. Wie’s wirklich war, habe ich niemandem erzählt, der Briegel war tot, sollte er in Frieden ruhen, bringt ja nichts, wenn im Nachhinein noch schlecht über ihn geredet wird. Er hatte seine Genugtuung. Gerechtigkeit, wenn man so will. Ich habe später mal nachgezählt: Von den 20 Flaschen im Bierkasten auf dem Dach des alten Flughafen-Gebäudes habe ich nur sechs getrunken, Frau Holle sieben und der Briegel sieben. Mit der siebten war er abgestürzt. Die Autorin Sigrid Sebald (46) ist Redakteurin in der Lokalredaktion Zweibrücken und verbrachte mit Mann, Kind und Freunden zuletzt einen sehr schönen Campingurlaub in Südfrankreich – ganz ohne Duplo.

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