Meinung Macrons einzige Chance

Emmanuel Macron bei seiner Grundsatzrede.
Emmanuel Macron bei seiner Grundsatzrede.

Der gewählte Ort für Macrons Grundsatzrede zu Europa war kein Zufall, genauso wenig wie der Zeitpunkt. Denn kurz vor der EU-Wahl steht Frankreichs Präsident mit dem Rücken zur Wand.

In der renommierten Pariser Universität Sorbonne, deren Name auch im Ausland Klang hat, hielt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits im Herbst 2017 eine vielbeachtete, da höchst ambitionierte Ansprache zu seiner Vision der EU. Er galt damals als junger Wilder, der der europäischen Idee mit großen Gesten und blumigen Worten neuen Elan verleihen will. Manche seiner damaligen Vorschläge wie jener eines gemeinsamen Finanzministers der Euro-Zone verpufften, unter anderem wegen mangelnder Begeisterung Deutschlands.

Auch die damals versprochene „Neugründung Europas“ erwies sich vor allem als Worthülse, geboren aus der wenig bescheidenen Überzeugung, er könne das europäische Rad neu erfinden. Dabei irritierte Macron wiederholt mit Alleingängen oder nicht abgestimmten Vorstößen, zuletzt mit der Aussage, er schließe die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nicht aus. Trotzdem wirkte er, der 2017 als einer der jüngsten Staatschefs der EU antrat und inzwischen zu den erfahrensten auf seinem Posten gehört, als Impulsgeber im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs. Wer, wenn nicht er?

Erschütterungen wie die Wahl von Donald Trump

Darum kehrte Macron nun an genau diesen Ort zurück, um nach vorne zu blicken und seine europapolitische Bilanz zu verteidigen. Indem er bereits vor fast sieben Jahren mehr Souveränität und Unabhängigkeit der Gemeinschaft forderte – ob in Fragen der Verteidigung oder hinsichtlich der Energieversorgung, zeigte er sich visionär. Das sollten seitdem Erschütterungen wie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die Corona-Pandemie und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlichen.

Zu Macrons größten europapolitischen Erfolgen zählt es, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2020 dazu bewegt zu haben, erstmals gemeinsame Schulden aufzunehmen, um einen Wiederaufbauplan nach der Pandemie zu beschließen. Sein Interesse ist es heute, das zu unterstreichen, zu zeigen, dass er noch weitergehen will und mitreißen kann.

Macron legt sein Gewicht in den Wahlkampf

Denn Frankreichs Präsident befindet sich im Wahlkampf – das erklärt den Zeitpunkt für die Rede. Im Gegensatz zu den Versicherungen aus seinem Umfeld handelte es sich um einen fast verzweifelten Versuch, Einfluss auf die EU-Wahl zu nehmen, die für sein Lager schlecht auszugehen droht. Befand sich seine liberale Partei Renaissance 2019 noch fast gleichauf mit dem rechtsextremen Rassemblement National, so liegt die Liste der Renaissance-Spitzenkandidatin Valérie Hayer derzeit in Umfragen mehr als zehn Prozentpunkte zurück.

Macron legt nun sein Gewicht in diesen Wahlkampf, ohne dass dies eine echte Trendwende auslösen dürfte. Bei Werbeaktionen auf französischen Wochenmärkten, so erzählen Parteimitglieder, geben ihnen manche Menschen die Flyer zurück, wenn sie das Antlitz des Präsidenten darauf sehen. Er hat längst nicht mehr denselben Rückhalt in der Bevölkerung wie vor sieben Jahren, etliche haben sich desillusioniert oder wütend abgewendet. An seine leidenschaftlichen, philosophisch angehauchten und stets sehr langen Reden haben sich die Menschen in Frankreich gewöhnt. Doch wenn große Erwartungen geweckt werden, wächst stets auch die Gefahr der Enttäuschung. Und doch bleibt es für Macron wichtig, sich als europäischer Visionär zu präsentieren. Denn das kann er wie kaum ein anderer.

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