Rheinpfalz Löw muss liefern

Rio de Janeiro. Bundestrainer Joachim Löw steht nach dem 2:1-Zittersieg gegen Algerien im WM-Achtelfinale in der Kritik. Seine Mannschaft ist von dem, was sie zu spielen in der Lage ist, weit entfernt. Löws Taktik wirft Fragen auf. Die Antworten muss er geben, heute (18 Uhr MESZ), im WM-Viertelfinale gegen Frankreich in Rio de Janeiro.

Irgendetwas muss passiert sein zwischen dem 1. und dem 6. Juni. Löw gab seinen Schützlingen nach dem 2:2 im vorletzten Test gegen Kamerun in Mönchengladbach vor der WM-Reise noch ein paar Tage frei, fuhr nach Hause in den Schwarzwald zum Kofferpacken, daheim brütete er aber auch noch etwas aus: eine völlig andere Taktik. Denn bei der Generalprobe gegen Armenien in Mainz (6:1) verblüffte er kurz vor Abflug schon mit einem neuen System. Plötzlich ließ Löw mit vier Innenverteidigern in der Abwehr agieren, Rechtsfuß Benedikt Höwedes verteidigte links, Philipp Lahm spielte als Sechser etwas vor der Defensive, Außenstürmer Thomas Müller wurde ins Angriffszentrum beordert. Das stellte alles auf den Kopf, wofür Löw bislang stand. Aus 4-2-3-1 mach’ 4-3-3. Der 54-Jährige setzte die Erkenntnisse des modernen Fußballs außer Kraft. Echte Außenverteidiger galten als Mittel, um von hinten mächtig Dampf zu entfachen. Mit Kevin Großkreutz und Erik Durm hat Löw zwei Spieler im Kader, die dazu fähig sind. Nach dem Rumpel-Comeback gegen Algerien, dem schmeichelhaften 2:1 in der Verlängerung, wird die Systemfrage heiß diskutiert. Die deutsche Mannschaft hat sich ins Viertelfinale gegen Frankreich gezittert, hat aber einen anderen Anspruch. Löw blieb bislang relativ unaufgeregt. Gegen die USA, gegen Ende, als Mario Götze und Mesut Özil sich wieder mal verhaspelten, hatte er an der Seitenlinie kurz einen Tobsuchtsanfall, aber der Sprung in die K.o.-Runde war ja geschafft. Der Boulevard war beruhigt und konzentrierte sich auf Löws im Dauerregen von Recife modifizierte Pilzkopffrisur. Aber das Vertrauen in den Trainer schwindet. Lange war er „Jedermanns Liebling“, der nette Herr Löw, der Jogi, dessen Bild durch den Film „Deutschland, ein Sommermärchen“ im Jahr 2006 maßgeblich geprägt wurde. Er hat die Mannschaft ja auch nach Projektarbeiter Jürgen Klinsmann weiterentwickelt, 2010 begeisterte sein Ensemble bei den Festspielen in Südafrika, fegte Australien, England und Argentinien weg. Bis gegen Spanien im Halbfinale wieder Schluss war. Löws Fehlleistung bei der EM 2012 im Halbfinale gegen Italien, als er sich völlig verrannte, sang- und klanglos ausschied mit seinem umgeformten Team, brachten ihn zum ersten Mal vehement ins Kreuzfeuer der Kritik. Löw kam heil raus aus der Geschichte, indem er wochenlang nichts von sich hören ließ – und zum ersten Länderspiel der neuen Saison gegen Argentinien wieder auftauchte. Wie viel hat Löw daraus gelernt? Kann er reagieren? Oder gibt er den Dickkopf aus dem Breisgau? Das Spiel heute ist auch für ihn ein ganz entscheidendes. Viele würden Philipp Lahm im Moment wieder gerne als rechten Verteidiger sehen. Das würde den Weg frei machen für Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira zusammen im Mittelfeld. Ein Interview in der „Zeit“, in dem Löw eine Rolle rückwärts bei Lahm ausschloss, wurde laut DFB-Pressesprecher Jens Grittner schon vor dem Spiel gegen Algerien geführt. Das hat also nur noch bedingt Aussagekraft. Mit dem Zickzack-Kurs bei Shkodran Mustafi macht sich der Coach zudem angreifbar. Nach dem Trainingslager in Südtirol war der junge Spieler von Sampdoria Genua nicht gut genug für den 23 Mann starken Kader. Als Marco Reus verletzt ausfiel, lotste ihn Löw kurz vor dessen Urlaubsreise nach Ibiza gen Frankfurt – um ihm eine Schlüsselrolle im Team zu geben. In der Partie gegen Algerien stand der gelernte Innenverteidiger in der Anfangsformation, obwohl der Novize schon in den Spielen zuvor Schwächen verriet. Wo sind sie denn alle, die Scouts, Siegenthalers, die Flicks? Was tun sie? Wer berät Löw? Was auffällt: Löw lässt während der WM in Brasilien sehr defensiv agieren. Er bleibt in Deckung, lässt anderen die Deutungshoheit – unverständlich. Torwarttrainer Andreas Köpke sprach am Mittwoch das Wort zum Sonntag für den Freitag. Der Coach verlängerte nach der WM-Qualifikation seinen Vertrag vorzeitig bis 2016. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hat dem 54-Jährigen vor der WM eine Job-Garantie gegeben, diese bekräftigte er vor dem Achtelfinale. Löw muss den Vertrauensvorschuss zurückzahlen. Heute.

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