Rheinland-Pfalz Ein neuer Unterarm für Leonie

Leonies linker Arm endet unterhalb des Ellenbogens. Mit Hilfe einer Unterarm-Prothese kann die Neunjährige auch an der linken Ha
Leonies linker Arm endet unterhalb des Ellenbogens. Mit Hilfe einer Unterarm-Prothese kann die Neunjährige auch an der linken Hand die Finger bewegen. Weil sie gewachsen ist, braucht sie nun eine neue Prothese. Ein Fall für die Hilfsmittel-Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Rheinland-Pfalz.

«LUDWIGSHAFEN/WORMS.» Die neunjährige Leoni kann Radfahren, Zahncreme aus der Tube auf die Bürste drücken und einen Reißverschluss auf- und zumachen. Eben vieles, was andere Kinder in ihrem Alter auch draufhaben. Dabei hat das Mädchen von Geburt an ein Handicap: Ihr linker Arm endet unter dem Ellenbogen. Ärzte bezeichnen eine solche Fehlbildung als „Dysmelie“. Leonie kann das durch eine Prothese ausgleichen. Mit deren Fingern packt sie zu, beispielsweise am Lenker des Fahrrades oder auch an der linken Hälfte des Reißverschlusses, um mit der Rechten dessen Schieber einzufädeln. Den Alltag kann sie recht gut bewältigen, erzählt ihre Mutter. Die Prothese hat das Mädchen vor über zwei Jahren bekommen. Doch inzwischen ist die Neunjährige gewachsen, der Armstumpf passt nicht mehr so recht in den Schaft. Auf der Haut sind trotz fleißigen Eincremens rötliche Flecken zu erkennen. Ein Arzt hat ihr deshalb eine neue Prothese verordnet. Einfach ausgedrückt besteht so ein Hilfsmittel aus einem aus Silikon nachgebildeten Unterarm. Darin befinden sich ein Elektromotor, ein Akku, mechanische Teile und Schaltkontakte. Will Leonie mit ihren Fingern zugreifen, spannt sie bestimmte Muskeln ihres Oberarms an und steuert so über Kontakte in der Prothese den Motor, erläutert Wolfgang Eymann. Der Chirurg leitet das Beratungs- und Begutachtungszentrum Kaiserslautern des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Rheinland-Pfalz. Die MDK-Gutachter prüfen: Hilft die Prothese Leonie? Geschätzte Kosten der neuen Prothese: rund 20.000 Euro. Bei einer solchen Summe wollen die gesetzlichen Krankenkassen vom MDK wissen: Ist das verordnete Hilfsmittel medizinisch notwendig, gibt es eine wirtschaftlichere Alternative, hat der Betroffene einen Nutzen davon? Um solche Fragen beantworten zu können, erstellen beim MDK Rheinland-Pfalz zwölf Ärzte und fünf Orthopädietechniker Gutachten. Eymann und sein MDK-Kollege Achim Pesch, ein Orthopädietechnikermeister, wollen von Leonie als erstes wissen, ob sie ihre alte Prothese auch benutzt. Denn gerade Kinder entwickeln oft erstaunliche Fähigkeiten, um ohne Hilfsmittel mit ihren körperlichen Einschränkungen klarzukommen. „Nicht jeden Tag“, antwortet das Mädchen. Vor allem im heißen Sommer des vergangenen Jahres habe sie die Prothese schon mal ausgezogen, fügt die Mutter hinzu. Unter dem Silikon kommt der Arm nämlich leicht ins Schwitzen. Je länger man das aushält, desto weniger muss man schwitzen, rät Achim Pesch: Die Haut gewöhnt sich dann leichter ans Silikon. Dass die Neunjährige ihre Prothese im wahrsten Sinne des Wortes im Griff hat, beweist sie Wolfgang Eymann mit einem kräftigen Händedruck. Schließlich achtet die Mutter darauf, dass Leonie fleißig übt. Beispielsweise, um einen Plastikbecher sicher greifen zu können, ohne ihn dabei zu zerdrücken. Wichtig ist der Mutter auch, dass das Mädchen beim geliebten Radfahren den künstlichen Unterarm benutzt. Weil Leonie sonst schief auf dem Sattel sitzen würde, was auf Dauer dem Rücken schaden könnte. Mit der Prothese hat das Mädchen auch schon versucht, die Fingernägel seiner rechten Hand zu lackieren. „Das wird mal wichtig werden, wenn sie noch ein bisschen älter ist“, schmunzelt die Mutter. „Wir sind immer dabei, was Neues zu probieren.“ Mutter und Tochter sind all jenen dankbar, die dazu beitragen, dass die Neunjährige eine solche Prothese nutzen kann, und die sie beim täglichen Training unterstützen. Wenn der Einsatz dieses künstlichen Unterarms immer besser klappt, stellen sich für Leonie auch Erfolgserlebnisse ein. Und die motivieren sie zusätzlich zum Weitermachen. Nach etwa einer halben Stunde sind Eymann und Pesch überzeugt: Sie werden der Krankenkasse in ihrem Gutachten empfehlen, dass Leonie eine neue Prothese bekommt. Das letzte Wort hat allerdings die Krankenkasse des Versicherten. Mit einer Beinprothese zwei Treppen hoch in die Wohnung Nach dieser Begutachtung im Ludwigshafener MDK-Zentrum bricht das MDK-Team zu einem Hausbesuch nach Worms auf: Ugur S. (Name von der Redaktion geändert) hat vor drei Jahrzehnten durch einen Verkehrsunfall sein rechtes Bein bis zum Knie verloren. Seine aktuelle Prothese trägt er seit fast acht Jahren. Damit kann der 52-Jährige ohne Stock oder andere Gehhilfen frei laufen, wie er dem MDK-Team nicht ohne Stolz vorführt. Auch die Treppen zu seiner Wohnung im zweiten Obergeschoss eines Altbaus meistert er hervorragend. Dabei bewegt Ugur S. sich seitlich über die Stufen. Zuerst setzt er das unverletzte Bein auf, dann zieht er das Bein mit der Prothese nach. Allerdings bereitet ihm der Beinstumpf nachts Schmerzen, oft kann er deshalb nicht richtig schlafen. Nach acht Jahren im täglichen Gebrauch ist die Prothese verschlissen, stellen Eymann und Pesch fest. Die nach einer so langen Nutzungsdauer völlig normalen Beschädigungen hat Ugur S. selbst mit einem Klebeband „repariert“. Ein Ersatz ist ohne Zweifel notwendig. Die Frage ist nur welcher. Bisher hat der 52-Jährige eine Prothese mit einem künstlichen Knie getragen, bei der eine hydraulische Unterstützung dafür sorgte, dass das Bein beim Auftreten auf die Ferse nicht wegknicken konnte. Diese Technik hat allerdings den Nachteil, dass sich Ugur S. auf jeden Schritt konzentrieren, auf den Boden achten und bestimmte Muskeln bewusst anspannen muss, erläutert Orthopädietechniker Pesch. Das Gehen auf einem schrägen oder unebenen Untergrund wie Pflastersteinen beispielsweise stellt eine Herausforderung mit einem nicht unerheblichen Sturzrisiko dar. Heute gibt es Alternativen, bei denen Elektronik in der Prothese „mitdenkt“: Sie berechnet die aktuelle Beinstellung und gleicht Unebenheiten in Bruchteilen einer Sekunde aus. Die Sorge der MDK-Gutachter, dass Ugur S. sich an die „alte Technik“ gewöhnt hat und deshalb mit einer anders funktionierenden Prothese nicht mehr klar kommen könnte, entkräftet er überzeugend: Die elektronische Variante habe er bereits zwei Wochen lang getestet, berichtet der 52-Jährige. Seine Gehversuche habe ein darauf spezialisiertes Sanitätshaus auch per Video aufgezeichnet. Das wollen sich Eymann und Pesch nun noch anschauen. Dadurch lässt sich unter anderem herausfinden, ob für Ugur S. ein anderes Modell im Hinblick auf die Kniehöhe geeigneter wäre. So oder so: Die Kosten für die neue Prothese dürften sich auf rund 30.000 Euro belaufen.

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