Rheinland-Pfalz 30 Sekunden ohne Krankheit

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Berg. In Sebastian Sommers Kalender stehen ungewöhnliche Termine für einen Achtjährigen: Zwischen Basketballtraining und Keyboard-Stunden trifft er sich mit Fernsehteams und lädt Journalisten zu sich nach Berg im Rhein-Lahn-Kreis ein. Alle wollen mit ihm reden. Schließlich ist der muskelkranke Junge deutschlandweit auf Kinoleinwänden zu sehen.

Sebastian jagt auf seinem Skateboard Autos hinterher. Im nächsten Moment steht er auf dem Kopf und dreht sich im Kreis wie ein professioneller Breakdancer, dann holt er Schwung, springt und versenkt einen Basketball im Korb. Schließlich findet er sich im Wasser wieder und taucht mit seinen Flossen hinab zu den Fischen und das alles in 30 Sekunden. „Es war komisch, mich im Kino zu sehen. Aber gut“, sagt der selbstbewusste Achtjährige. Was er auf der Leinwand angeschaut hat, ist der Kinospot zum 50. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM), in dem er die Hauptrolle spielt. Endlich mal alles das machen, was ihm sonst verwehrt bleibt. Weil er an spinaler Muskelatrophie leidet und sich seine Muskeln immer weiter zurückbilden, sitzt Sebastian im Rollstuhl. Tanzen und Skateboardfahren kann er deshalb nur im Film. Damit sich der muskelkranke Junge dort so bewegt wie ein gesunder, verwendete das Filmteam rund um Regisseurin Reinhild Dettmer-Finke den Stopptrick. Für Sebastian bedeutete das: drei Tage lang auf dem Boden liegen. Seine Mutter Natascha Sommer hatte die Aufgabe, seine Arme und Beine um wenige Zentimeter zu verschieben. Dann wurde von oben gefilmt. Dann wieder geschoben und wieder gefilmt und wieder geschoben. Das Ergebnis erinnert an ein Daumenkino – die einzelnen Bilder verschmelzen zu einer Geschichte. Die ist jetzt nicht nur Kinospot, sondern auch Imagefilm für die DGM. „Der Spot ist ein wesentliches Element für unseren Auftritt nach außen“, erklärt Patricia Habbel-Steigner von der DGM. „Ein Ziel ist, die Forschung voranzutreiben. Wegen der Seltenheit der Erkrankungen hat die Pharmaindustrie wenig Interesse daran, in die Forschung zu investieren.“ Und wegen der Seltenheit sei es wichtig, auf die Krankheiten aufmerksam zu machen und über sie aufzuklären.Ob Sebastian beim Film die Hauptrolle spielen darf, war für Mutter Natascha Sommer keine schwierige Frage. „Klar können die vorbeikommen und mal gucken, was wir machen können“, war ihre Reaktion, als die DGM ihren Sohn als Hauptdarsteller vorschlug. Schließlich liegt auch ihr und ihrem Mann Stefan Sommer etwas daran, dass die Krankheit von Sebastian bekannter wird. Je mehr Aufmerksamkeit die DGM mit dem Kinospot bekommt, desto mehr Spenden gehen an die betroffenen Familien. Natascha und Stefan Sommer wussten nicht, dass sie Träger der seltenen Erbkrankheit sind und sie an ihren Sohn weitergegeben haben. „Wir haben es gemerkt, als er so komisch aufgestanden ist“, erinnert sich Natascha Sommer an die Zeit, in der Sebastian ein Kleinkind war.Wenn die Eltern erzählen, ist spürbar, dass die Krankheit das Familienleben prägt. „Die Blicke, als wir das erste Mal mit dem Rollstuhl in der Innenstadt waren“, erinnert sich Vater Stefan, „meistens waren sie mitleidig.“ Doch Mitleid treibt Sebastian dem Beobachter schnell aus, wenn er sich in seinem Elektro-Rolli im Kreis dreht, bis dem Jungen schwindelig, wird oder wenn er mit seinem Basketball einen Korb nach dem anderen wirft. Er erinnere sich nicht, wie es ohne Rollstuhl ist, sagt er. Seine Eltern schon. Gut ein Jahr ist es her, dass Sebastians Muskeln aufgehört haben, ihn zu tragen. „Man weiß, es kommt, aber es ist doch hart dann“, sagt Natascha Sommer und erzählt, wie bedrückend es war, nicht mehr den stehenden, sondern den im Rolli sitzenden Sebastian ins Auto zu heben. Obwohl Sebastian am nicht lebensbedrohlichen Typ 3 der spinalen Muskelatrophie leidet, ist die Krankheit nicht aufzuhalten. Dass die Wirbelsäule wegen des vielen Sitzens Probleme machen wird, und dass sich die Sehnen verkürzen, damit rechnen die Eltern schon, obwohl sie versuchen, nicht an das zu denken, was kommt. „Mir fällt die Krankheit besonders dann auf, wenn ich meinem Freund beim Fußballspielen zuschaue“, sagt Sebastian in seinem Bayern-München-Trikot. Kicken geht für ihn nur beim Tischfußball auf dem Teppich im Kinderzimmer. Aber endlich können auch Sebastians Freunde neidisch auf ihn sein. In einem Kinospot haben sie schließlich noch nicht mitgespielt. „Die haben gesagt, dass das richtig super ist und ich das gut gemacht habe“, sagt der Achtjährige stolz. MEHR ZUM THEMA

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