Kalender: Kalender: 50 Jahre „Tatort“: Die Leiche am Lagerfeuer

Als unser Autor noch ein Bub war, hat ihn der „Tatort“-Vorspann bis in seine Träume verfolgt.
Als unser Autor noch ein Bub war, hat ihn der »Tatort«-Vorspann bis in seine Träume verfolgt.

Vor 50 Jahren wurde der erste „Tatort“ ausgestrahlt. Der Kult-Krimi stiftet Gemeinschaft und reinigt die Seelen.

Sonntagabend, 20.15 Uhr. Die Tagesschau hat vielleicht gerade über Mord und Totschlag in der Welt berichtet. Und Millionen Deutsche sitzen vor dem Fernseher und warten auf eine Leiche. Seit 50 Jahren geht das jetzt so, seit dem 29. November 1970, als der erste „Tatort“ mit dem Titel „Taxi nach Leipzig“ ausgestrahlt wurde.

Als Kind hieß es stets: „Ab ins Bett.“ „Tatort“ war für Erwachsene. Manchmal jedoch erhaschte man noch einen Blick auf den Vorspann. Diese Augen! Sicher ein böser Mann, der vor irgendetwas oder irgendjemandem wegläuft. Als Albtraum kehrte er in einer Endlosschleife wieder.

Als Jugendlicher schaute man dann mit den Eltern die nächste „Tatort“-Folge, was manchmal ein wenig peinlich war. Denn Freizügigkeit entwickelte sich schon recht früh zu einem Markenzeichen der Krimi-Serie, sodass die „Bild“-Zeitung montags in schöner Regelmäßigkeit fragen konnte: „Wer war die ,Tatort’-Nackte?“ Die vielleicht berühmteste war Nastassja Kinski in Wolfgang Petersens „Reifezeugnis“ aus dem Jahr 1977.

Man versammelt sich

Der Vorspann ist gleich geblieben in 50 Jahren, in denen über 1100 „Tatort“-Folgen ausgestrahlt wurden, mit Spitzenwerten von bis zu 15 Millionen Zuschauern, derzeit vor allem dann, wenn Börne und Thiel in Münster ermitteln. Seit 50 Jahren läuft dieselbe Musik von Klaus Doldinger, diese Wiedererkennungs-Melodie, für deren erste Version Udo Lindenberg am Schlagzeug Platz genommen hatte. Der „Tatort“ ist der Dauerbrenner des deutschsprachigen Fernsehens, mit Drehorten auch in der Schweiz und in Österreich.

Er ist gesellschafts- und gemeinschaftsstiftend. Man versammelt sich – gut, in Corona-Zeiten vielleicht besser nicht – eben nicht nur mit der Familie, sondern auch mit Freunden, geht zum Public Viewing in eine Kneipe. „Tatort“ ist gleichsam das letzte Lagerfeuer der deutschen Fernsehunterhaltung, um das wir uns am Sonntagabend versammeln. Der „Tatort“ war sogar ein gesamtdeutsches Phänomen, lange vor dem Mauerfall und bevor die ersten Teams auch in den damals noch neuen Bundesländern ermittelten. Er zeigte eine andere, eine ehrliche Facette des vermeintlich Goldenen Westens. Offenbarte Abgründe und Schwächen, welche die SED in ihrer Konkurrenzveranstaltung, dem „Polizeiruf 110“, nie zugelassen hätte. Wenn es in einem Staat so kaputte Polizisten wie Schimanski gibt, konnte es mit der Überlegenheit des Westens ja nicht so weit her sein.

Erfolg durch Vielfalt

Wie in einem Brennglas zoomen einzelne Folgen gesellschaftliche Probleme ganz nahe an uns heran, sie holen sie zu uns ins kuschelige Wohnzimmer, wo sie auch schon mal ziemlich hart aufschlagen können. Rechtsextremismus, Terrorismus, Bandenkriminalität, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Kindesmissbrauch, Flüchtlingskatastrophen – der „Tatort“ lässt nichts aus. Er ist sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung bewusst und weit mehr als nur spannende Unterhaltung.

Sein Erfolg liegt auch in seiner Vielfalt begründet, in der Vielfalt der ganz unterschiedlichen Ermittlerteams und der Handlungsorte. Da gibt es durchgeknallte Typen wie Peter Faber, gespielt von Jörg Hartmann im Dortmunder „Tatort“, neben den beiden Ermittlern Batic und Leitmayr in München, verkörpert von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl, die man sich problemlos als Personenschutz für die eigene Schwiegermutter vorstellen könnte. Und natürlich ist jede „Tatort“-Folge auch ein Heimatfilm. Lokalkolorit spielt eine große Rolle, manchmal auch sprachlich, wie im Ludwigshafener „Tatort“ mit Ulrike Folkerts als Lena Odenthal. Das hat etwas von wohligem Gruseln, zu sehen, dass an Orten, die man kennt, Gewaltverbrechen passieren.

Katharsis um 21.45 Uhr

Natürlich gilt die Sympathie meistens den Ermittlern. Mit ihnen identifizieren wir uns. Ja mehr als das. Wir werden selbst zu Ermittlern, versuchen herauszufinden, wer der Täter gewesen ist. Achten auf Indizien, auf Spuren, geben Tipps ab auf der Couch. Wollen schneller, klüger, raffinierter sein als die Kommissare im Film.

Aber dann kommt der Moment, wenn der Täter gefasst wurde, wenn er gesteht. Und es setzt ein ganz eigenartiges Mit-Erleben, Mit- und Nach-Empfinden ein. Mit der Schuld, der Scham. Es fröstelt einen. Vor langer Zeit hat der griechische Philosoph Aristoteles das als Katharsis bezeichnet. Als eine Art Seelenreinigung, die einem die Tragödie beschert. Das ist dann gegen 21.45 Uhr in Deutschland, wenn alle froh sind, dass es nur ein Film war. Nur ein „Tatort“.

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