Speyer Vor dem Abi in den Krieg gezogen

Es ist Mittwoch, kurz nach 12 Uhr, in der Gaststätte Adler in Dudenhofen: Der Stammtisch des Abijahrgangs 1940 des Gymnasiums Speyer ist komplett. Dr. Karl Rudolf Müller (92) und Dr. Emil Sold (94) haben ihren Campari Soda bestellt und fangen an, von ihrer Schulzeit zu erzählen. Schon damals waren sie gute Freunde. „Mittlere Kolonne, letzte Bank, da waren wir gesessen“, sagt Sold. Sie sind die Letzten, die die Tradition des monatlichen Klassenstammtisches aufrechterhalten.

Dabei ist auch Margot Muth, deren vor einem Jahr verstorbener Mann Albert ein Klassenkamerad war. Auch Sold und Müller leben inzwischen allein, haben ihre Pflegerinnen Helene Cioban und Agnes Przytyk mitgebracht. 1941 hätten sie ihr Abitur am Gymnasium Speyer, dem heutigen Gymnasium am Kaiserdom, machen sollen. „Tatsächlich sind wir schon 1940 rausgeschmissen worden. Wir mussten einrücken“, erzählt Müller. Zeit für eine Abiturprüfung blieb ihnen nicht. Die Noten der Klassenarbeiten wurden die Abiturnoten. Sold war einer der Ersten, der gehen musste. Während die Klassenkameraden noch in der Schule paukten, marschierte er schon jeden Morgen an der Schule vorbei zum Exerzierplatz. Karl Rudolf Müller war jünger und durfte noch ein bisschen bleiben, bevor auch er in den Krieg ziehen musste. „Ich bekam von jedem Schüler 10 Pfennig. Damit sollte ich nach dem Krieg eine Klassenliste erstellen und an alle verschicken“, erzählt er. 1947 trafen sich die ehemaligen Schüler zum ersten Mal. Seitdem organisierte Müller alle fünf Jahre ein Treffen mit Besuch der Schule und Ausflügen. Im Vorfeld verschickt er jedes Mal einen Rundbrief, in dem er zusammenfasst, was seit dem vergangenen Treffen geschehen ist und eine Klassenliste mit lebenden, gestorbenen und gefallenen Klassenkameraden. Müller, der nach dem Krieg Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie am Speyerer Gymnasium wurde, hat ein Gedenkbuch für die Verstorbenen erstellt. Von 72 Schülern, darunter zwei Mädchen, haben 29 im Krieg ihr Leben gelassen. Bei jedem Treffen werden die Namen vorgelesen. Ursprünglich gab es auch eine Gedenktafel für die Gefallenen in der Schule. „Da die heutigen Jahrgänge keine Kriegstoten kennen und über deren Ehrung sowieso zu stark nachdenken müssten, hat man die Gedenktafel einfach übertüncht“, schrieb er in seinem Rundbrief 2006, als die Feier zu 65 Jahren Abitur anstand. Das war das letzte Treffen, 2011 blieb es bei dem Rundbrief, die Teilnahme an einem Treffen wäre für die meisten zu beschwerlich geworden. Den Stammtisch am zweiten Mittwoch im Monat gibt es noch – seit 1952. Viele der Klassenkameraden kamen nicht aus Speyer, sondern aus dem Umland bis hin zum Saarland. Sie lebten in einem der drei Konvikte. Oft waren sie ein bisschen älter, was erklärt, warum Schüler aus den Jahrgängen 1919 bis 1923 in der Klasse waren. „Die Kinder aus dem Umland hat man noch nicht mit zehn Jahren nach Speyer geschickt, die blieben noch in der Volksschule“, weiß die Lingenfelderin Muth. „Ich war im Missions-Konvikt kaserniert und durfte nur in den Ferien nach Hause nach Schifferstadt“, erzählt Sold, der später Arzt für Allgemeinmedizin und Geburtshilfe wurde. Die Konviktler durften nicht wie die „Städter“ mit 16 zur Tanzstunde. „Wir haben stattdessen Rosenkranz gebetet“, sagt Sold spitzbübisch. Und die Konviktler waren nicht „organisiert“, also Mitglied von Jungvolk und Hitlerjugend, und mussten deshalb samstags, während die „Organisierten“ ihren Staatsjugendtag hatten, in eine Art Ersatzunterricht. Die „Städter“ wie Karl Rudolf Müller hatten auch so ihren Weg gefunden, die Hitlerjugend zu vermeiden. „Wir waren alle Jungvolkführer. Da hatten wir das Gebaren des Ganzen ein bisschen selbst in der Hand. Und ich habe das Kirchliche nicht vernachlässigt“, erzählt Müller. Der Nationalsozialismus hat das Leben am Gymnasium, das 1938 in eine „Oberschule“ und ein Jahr später in ein „Humanistisches Gymnasium – Realschule – Oberschule“ umbenannt wurde, in vielerlei Hinsicht geändert. Trotz allem erinnern sich die Beiden gerne an ihre Schulzeit, eine Zeit, in der man die Lehrer noch mit „Professor“ ansprach. Ehrensache, dass die Kinder von Sold und Müller auf das Gymnasium in Speyer gingen.

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