Speyer Mehr als ein Rauschen

Ludwigshafen

. Viele Sonnentage hat es in diesem Winter bislang nicht gegeben. Umso mehr haben Ernst Christian Driedger und ich an diesem Tag Glück: Die Luft ist klar und trocken. Das Licht, das durch die Bäume fällt, verfängt sich in einem Spinnennetz, bringt das kunstvolle Fadengespann zum Glitzern, ehe die Strahlen den Boden treffen und dem trockenen Laub frische Farben geben. Romantik-Blabla, denken Sie? Vielleicht. Aber spazieren Sie selbst mal durch den Wald und achten darauf, ob Sie sie auch spüren: die poetische Ader. Möglicherweise geht Ihnen aber auch nur einfach das Herz auf. Sie spüren Glück. Sie werden ruhig. Ihre Gedanken ordnen sich. Was Wald mit uns macht, wollen der Schifferstadter Förster und ich heute ergründen. Und eines sei vorausgeschickt: Es gibt so einige Waldgefühle zu erspüren. Bleiben wir zunächst bei der Romantik. Vieles, was deutsche Dichter geschrieben haben, ist durchtränkt von buchenblattgrünen, wundersamen Waldgedanken. „Im Wald, im Wald! Da konnt ich führen, ein freies Leben mit Geistern und Tieren; Feen und Hochwild von stolzem Geweih, sie nahten sich mir ganz ohne Scheu“, dichtet Heinrich Heine. Ernst Christian Driedger sagt nüchtern: „Solche romantischen Vorstellungen mussten sich Menschen erst mal leisten können. Lange haben die Leute gegen den Wald gekämpft, ihm Flächen abgerungen, um Getreide anzubauen.“ Umgekehrt allerdings hat der Wald immer schon als Vorratskammer gedient: Fleisch, Beeren, und Holz zum Heizen bietet er auch. Und so wurde der Wald zu vielen Zeiten ausgebeutet – ganz unromantisch. „Bis in die Nachkriegsjahre hinein haben Menschen im Wald Holz gesammelt, oft illegal“, sagt Driedger. Dass der Wald dann oftmals tipptopp aufgeräumt gewesen sei, habe also nichts mit Elfenflattern und Wichtelmännern zu tun gehabt. Ökologisch sinnvoll war es auch nicht. Driedger marschiert los. Querwaldein. Ich halte mit, habe aber sofort eines der eben noch bewunderten Spinnengespanne im Gesicht kleben und unterdrücke ein Quieken. Wo will er denn hin, der Förster? Wir laufen im Zickzack wie scheue Rehe zwischen den Bäumen hindurch. Dann stehen wir vor einem umgeknickten Baum. Den Stamm haben Insekten, Vögel und Wetter bearbeitet. „Ich habe ihn schon gekannt, als er noch stark und mächtig war. Am 1. März 1990, ein Aschermittwoch, hat ihn Orkan Wiebke gebrochen“, erzählt der Förster. Jeder habe das Holz mitnehmen wollen, er aber habe gesagt: „Das bleibt so.“ Für Driedger ist es ein besonderer Ort, weil alles stimmt. „Die Bäume stehen wie Hüter ringsherum. Auch wenn ich ein bekennender Christenmensch bin – der Ort hat etwas Mystisches. Ich bin oft hierher gekommen, wenn es mir nicht so gut ging. Wenn ich Kraft schöpfen wollte.“ Heute können wir es uns leisten, Holz im Wald liegen zu lassen, romantisch zu sein. Allerdings übertreiben es manche Leute mit ihrer Waldliebe. „Sobald wir Holz schlagen, gibt es Geschrei. Wir dürfen den Wald nicht angreifen – die Oase inmitten des hektischen Lebens. Wir Förster gelten inzwischen als Metzger. Dabei sorgen wir mit der Motorsäge mitunter auch für Frieden.“ Driedger zufolge wäre es nämlich nicht friedvoll, sondern ganz schön laut im Wald, wenn wir Bäume schreien hören könnten. Sie kämpfen untereinander um Nährstoffe, Wasser und Licht. „Sehen Sie da vorne die drei Buchen, zwei davon sind gerade dabei, die dritte zu verdrängen, sie ist schon viel schmächtiger.“ Der Metzger mit der Motorsäge war früher der Förster vom Silberwald oder Martin Rombach vom Forsthaus Falkenau. „Ja, Förster war zwischenzeitlich ein angesehener Beruf, der oftmals sogar verklärt wurde.“ Die Zeitspanne reichte von den 60er- bis in die 90er-Jahre. In noch früheren Zeiten war der Förster Vertreter der Obrigkeit, der die Leute daran hinderte, sich aus dem Wald zu holen, was sie zum Leben brauchten. Der Forstbeamte lebte gefährlich. An dieser Stelle verlassen wir die Welt der glitzernden Spinnenfäden, die romantischen Pfade durch sonnenbetupftes Laub. Ernst Christian Driedger und ich haben es mit einem Mord zu tun. Wir stehen vor dem Kreuz von Martin Witt. Der Forsthüter wurde 1876 im Alter von 45 Jahren „in der Erfüllung seines Berufs von Mörderhand erschossen“. Sein Kampf mit einem Wilderer soll in der Abteilung Gay stattgefunden haben, Schifferstadter wollen Schreie gehört haben. Gänsehaut. Grusel. „Gay hat übrigens nichts mit San Francisco zu tun, sondern kommt von dem Wort Gehau“, sagt Driedger und lacht. „Hier war zu Zeiten Witts ein Kahlschlag, die Bäume sind jetzt etwa so alt wie die Mordgeschichte.“ Trotz der Auflockerungsversuche des Försters bleibe ich angespannt. Plötzlich sehe ich Nebel zwischen den Stämmen wabern, es knackt im Unterholz. In der Ferne schlägt ein Hund an. Es ist doch ein Hund ...? In 161 der insgesamt 210 Märchen, die die Brüder Grimm gesammelt und herausgegeben haben, kommt das Wort Wald vor. Das stellt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz fest, in der Broschüre „Entdecken Sie unser Waldkulturerbe“. Für Literaturwissenschaftler ist die Sache klar: Der Wald bildet im deutschen Märchen eine eigene Welt, die der realen Welt der Menschen gegenübersteht. Es ist eine Zauber- und Wunderwelt, vor allem ist es aber eine fremde Welt, in der Schillers Räuber hausen und Hänsel und Gretel an eine böse Hexe geraten. Ja, in der sogar die Romantiker nach Sonnenuntergang erschauern: „Alles geht zu seiner Ruh. Wald und Welt versausen, schauernd hört der Wandrer zu, sehnt sich recht nach Hause.“ Joseph von Eichendorff hat recht, sobald es dämmert, wird es unheimlich im Wald. Deshalb leben Nachtwanderungen von einer ganz eigenen Stimmung. „Erst dann wirken Sagen und Geschichten von anno dazumal so richtig“, sagt Driedger und erinnert an eine Waldnacht zum Jubiläum 50 Jahre Schifferstadt. „Bei Mondschein traten historische Gestalten zwischen den Bäumen hervor. Eine klagende Mutter, deren Tochter im Wald vergewaltigt und ermordet wurde, eine alte Waldfrevlerin und eben besagter Waldhüter Martin Witt.“ Ich schaue noch mal auf das Kreuz. Gänsehaut. Grusel. Dann gucke ich bewusst in den blauen Himmel. Ich möchte die gute Waldstimmung zurück haben. Driedger und ich laufen zum Auto. Wir philosophieren über die gemischten und ambivalenten Waldgefühle der Menschen. „Beim Wandern, wenn man so nebeneinander herläuft, lässt es sich gut reden“, sagt der Schifferstadter. Zu schwierigen Unterredungen bitte er deshalb seine Gesprächspartner in den Wald. „Man sitzt sich nicht so starr gegenüber, Gesprächspausen werden nicht unangenehm, man hat Zeit nachzudenken.“ Klare Luft, klare Gedanken – sicherlich auch ein Aspekt. Oder das besondere Gefühl von Nähe, das sich unter den hohen Bäumen einstellt, unter denen man einherschreitet. Und wer sich zu mehreren aufmacht, lernt ein Wir-Gefühl kennen, spürt Gruppendynamik. Da könnte der Romantiker dann aber schon mal aus dem Takt beim Reimen kommen, wenn er auf rieslingselige Wanderscharen trifft. Doch an solch einem Vormittag unter der Woche hätte Eichendorff nichts zu befürchten gehabt: „O Täler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft’ge Welt, schlag noch einmal die Bogen um mich, du grünes Zelt!“ Und das Licht, das durch die Bäume fällt, verfängt sich in einem Spinnennetz ...

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