Rhein-Pfalz Kreis Sekunden, die alles verändern

Schifferstadt. Christoph Rickels ist 28 Jahre alt und schwer behindert, seit er 2007 vor einer Diskothek zusammengeschlagen wurde. Seit einiger Zeit geht er mit einem Gewaltpräventionsprojekt an Schulen, erzählt von seiner mühsamen Rehabilitation und möchte jungen Menschen zeigen, welche Folgen körperliche Gewalt haben kann. Jetzt ist er mit seinem Vortrag erstmals in einer Jugendstrafanstalt gewesen.

Christoph Rickels ist es gewohnt, seine traurige Geschichte vor Gruppen zu erzählen. Doch diese Situation ist neu: Mit verschränkten Armen, die Muskeln deutlich sichtbar, steht der 27-jährige vor einem ganzen Saal voller Häftlinge der Jugendstrafanstalt Schifferstadt. Ihm gegenüber sitzen junge Männer, manche schauen gelangweilt, andere betont lässig, viele von ihnen wurden wegen Gewaltverbrechen verurteilt. Vielleicht sogar wegen einer Tat, wie der, die Rickels Leben für immer verändert hat? Rickels beginnt zu erzählen, seine Sprache ist schleppend, doch die Sätze haben es in sich. Er spart nicht an Kraftausdrücken, mimt vielleicht noch den coolen Macker, der er nach eigener Aussage einmal war – der durchtrainierte Sportler, der sich schon in der Jugend für die Belange anderer eingesetzt, mit Leib und Seele Schlagzeug, Keyboard und Gitarre gespielt hat und politisch aktiv war. Bis zwei Sekunden sein Leben komplett veränderten. Nach der Schule sollte der damals 20-Jährige zu den Feldjägern nach Süddeutschland gehen. Zuvor wurde Abschied in einer Disco gefeiert. „Ich habe einem Mädel einen Drink spendiert. Die hatte einen Freund, und der war saueifersüchtig“, erzählt er. Was dann kommt, daran kann er sich nicht mehr erinnern, aber die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera zeigen die brutale Wahrheit. Der eifersüchtige Freund lauert Rickels vor der Disco auf, schlägt ihm mit der Faust an die Schläfe. Rickels verliert das Bewusstsein und fällt mit dem Gesicht auf den Boden. Die Folge: Knochenbrüche im Schädel, sechs Hirnblutungen, vier Monate Koma, drei Jahre Klinikaufenthalt und Reha, in der er alles wieder lernen muss: essen, sprechen, laufen. Geblieben ist eine Sprachbehinderung und eine spastische Lähmung in der rechten Körperhälfte. Die macht sich langsam bemerkbar, Rickels’ Bein beginnt zu zittern, er muss sich setzen. Er redet von falschen Freunden, die ihn im Stich ließen, von seiner Vorstellung von wahrer Liebe oder Freundschaft, von der Musik, die er so sehr vermisst, von Fernsehauftritten. Er appelliert an seine Zuhörer, die Finger von Drogen zu lassen und fordert dazu auf, erst zu denken, dann zu handeln und erinnert an den schlagzeilenträchtigen Fall der Studentin Tuğçe, die in Offenbach auf einem McDonald’s-Parkplatz niedergeschlagen wurde. „Sie ist tot, weil ein Volldepp meinte, er muss einen auf Riesenmacker machen.“ Gewaltbereitschaft erlebe er leider schon bei Kindern. Solche Kinder fordert er dann in seinen Vorträgen auf, gegen ihn, den Behinderten, anzutreten im Liegestütz. Bisher hat er fast immer gewonnen. Auch hier im Gefängnis findet sich mit Emre ein starker junger Mann, der gegen ihn antreten möchte. Jetzt kommt Leben ins Publikum, die Männer steigen auf die Stühle, um besser sehen zu können, zählen die Liegestützen mit. Bis 35 sind beide Männer gleich auf, obwohl Rickels sichtlich weniger Kraft im rechten Arm hat. Bei 37 gibt Emre auf und gratuliert Rickels. Spätestens jetzt ist das Eis gebrochen. Die jungen Männer sind fasziniert von Rickels, der sich mit viel Mut und unglaublichem Ehrgeiz zurück ins Leben gekämpft hat. Inzwischen hat Rickels die Organisation First Togetherness gegründet, die sich für Gewaltprävention einsetzt. „Ich würde es klasse finden, wenn ihr heute etwas mitnehmt. Ihr wisst selber, dass ihr potenzielle Täter seid. Wenn ihr einen neuen Weg einschlagen könnt, dann tut das“, sagt er in Richtung seiner Zuhörer. Die sind sichtlich beeindruckt. Viele lassen sich ein Autogramm geben und sprechen ihm ihren Respekt aus. Spontan gibt es sogar eine Einladung auf einen Kaffee in eine Wohngruppe.

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