Pirmasens „Wir werden eine einsamere Gesellschaft werden“

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Der Ökumenische Krankenpflegeverein Winzeln-Gersbach feierte am Freitagabend in der vollbesetzten Mehrzweckhalle in Gersbach sein 100-jähriges Bestehen. Neben der Präsentation von Bildern aus der Geschichte des Vereins stand ein Podiumsgespräch zum Thema „Krankenpflege und Pflege im Alter (in Winzeln, Gersbach und anderswo) – gestern, heute … und in Zukunft?“ im Mittelpunkt.

„Not und Elend waren die Motivation vor 100 Jahren“, erinnerte Vereinsvorsitzender Erich Weiß an die Anfänge und fragte: „Welche sind es für die nächsten Jahre?“ Pflege sei längst zu einem Geschäft geworden. Diakonie und Caritas seien nur noch Mitbewerber, stellte Weiß fest. „Tue Gutes und sage es niemand, das war einmal.“ Pfarrer Walter Becker als Moderator fragte: „Ist der Solidargedanke noch zeitgemäß?“ Oberbürgermeister Bernhard Matheis meinte, der Staat solle die Solidargemeinschaft ergänzen, wo sie nicht ausreicht, aber sich nicht einmischen, wo sie funktioniert. Martina Sand, Leiterin des Diakoniezentrums Pirmasens, meinte: „Wir wissen alle, dass wir die Solidargemeinschaft so händeringend brauchen wie nie noch nie.“ Gebraucht werde ein System, das greife, bevor die Menschen ins Heim kommen, und das sei eine Aufgabe für die Krankenpflegevereine. Landesdiakoniepfarrer Albrecht Bähr, Leiter des Diakonischen Werks in Speyer, pflichtete bei: „Solidarität ist der warme Herzschlag der Gesellschaft“. Das werde vernachlässigt. „Wir werden eine einsamere Gesellschaft werden“. Neben Professionalität seien niederschwellige Angebote wichtig, wie mit zum Einkaufen zu gehen und Geselligkeit. Wichtig sei ihm, dass sich Elisabethen- und Diakonievereine vor Ort vernetzen. Es sei eine Zukunftsfrage der Kirche, wie solidarisch sie ist. Einsamkeit, Isolation und mangelnder Ansprache entgegenzutreten könne die Sozialstation nicht allein leisten, stellte Sand fest. „Das Altenheim wie jetzt wird es nicht mehr geben“, prophezeite sie. „Die Lücken in der Pflege sehen wir tagtäglich. Wir haben kein durchgängiges System“, beklagte sie. Es gebe schwerstkranke Menschen und die Menschen würden immer älter. „Wie schaffen wir ein erträgliches Leben zu Hause?“, fragte Sand. Neue Wohnformen wie das Patio-Projekt im Winzler Viertel nannte sie einen Ansatz. In einem Wohncafé könnten sich die Leute treffen. In die stationäre Pflege kämen Menschen, weil sie in der Isolation pflegebedürftig geworden seien. Bähr beklagte, durch die Pflegeversicherung sei eine Kapitalisierung der Pflege erfolgt. Diakonie und Caritas müssten alle Ressourcen besser vernetzen, dann seien sie unschlagbar auf dem Markt, nannte er als Überlebensrezept. In Zukunft werden wir 40 Prozent Single-Haushalte haben und Verwandte werden berufsbedingt nicht mehr vor Ort leben, schaute Bähr in die Zukunft. „Wir denken immer noch in geschlossenen Systemen“, bemängelte Matheis. Er könne sich ein System vorstellen, in dem die Hilfen koordiniert und zusammengefügt werden, damit keine Doppelstrukturen entstünden. Bei den unterschwelligen Initiativen seien die Seniorenclubs sehr aktiv. Beim Thema Senioren-Wohngemeinschaft oder Mehrgenerationenhaus müsse man aufpassen, dass man nicht in Sozialromantik abdrifte, gab Sand zu bedenken. Heute gebe es mehr Individualität. Es müsse Möglichkeiten geben, in der eigenen kleinen Wohnung zu leben und trotzdem in Gemeinschaft. „Wir brauchen einen gemeinsamen Raum dafür.“ Dann könne man Betreuungsmaßnahmen gebündelt für mehrere Stunden im Haus zeitgleich für mehrere Personen anbieten und vielleicht einen Nachtdienst stellen. Bähr wandte ein, man solle die Alten nur nicht allein in ein Haus stecken, sondern mit jungen Menschen und Familien. Matheis ergänzte, wo ambulante Pflege rechtzeitig greife, könne man stationäre Pflege lange, lange vermeiden. Mit Langzeitarbeitslosen als Seniorenbetreuern habe man hervorragende Erfahrungen gemacht. Bähr warnte vor der „Zeitbombe“ Altersarmut. Sand stellte fest: „Ohne bürgerschaftliches Engagement, ohne Nachbarschaftshilfe wird die Zukunft nicht zu bewältigen sein. Ohne Unterstützung von Profis und Schulung der Ehrenamtlichen wird es nicht funktionieren.“ Denn oft lebten Menschen mit Demenz im häuslichen Bereich. Man müsse wissen, wie damit umzugehen ist. (arck)

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