Neustadt Auch ein Tag für Protestanten

Wenn unser Turm der Christuskirche noch etwas höher wäre und wir weit genug über ihn hinaussehen könnten, könnte man vermutlich immer noch nicht die Kirchtürme der Lambertskirche und der Martinskirche in Bockenheim an der Weinstraße sehen, dem Geburtstort meines Mannes. Die beiden Dörfer Groß- und Kleinbockenheim haben sich 1958 zu Bockenheim zusammengeschlossen. Kirchlich waren sie das schon lange. Die beiden Dorfwappen mussten deshalb zu einem Wappen vereinigt werden: ein Geißbock und der Heilige Sankt Martin. Der Heilige Sankt Martin war, gemäß der Legende, auf einem Pferd reitend dargestellt, wie er gerade mit dem Schwert seinen roten Umhang zerteilt, dessen unteres Ende bereits ein neben dem Pferd kniender Bettler in der Hand hält. Da das Wappen nicht größer werden sollte, man aber beide Motive beibehalten wollte, kam man auf diese beachtliche Lösung: Auf der unteren Wappenhälfte steht jetzt ein stolzer Geißbock, und vom alten Wappen ließ man dafür die untere Hälfte einfach weg. Und so sieht man heute den Heiligen Martinus auf seinem Pferd mit einem halblangen roten Umhang, sein Schwert in der Hand: Vom Bettler und dem abgeschnittenen Mantel ist nichts mehr zu sehen. So hat man gerade dieses christliche Motiv des „Teilens“, für das der Heilige Martin jahrhundertelang stand, einfach „abgeschnitten“. Ob der Bockenheimer Gemeinderat stolz auf seine Lösung war, ist nicht überliefert. Aber eigentlich könnte und sollte uns, selbst beim Schmunzeln über diese Geschichte, ein Licht aufgehen: Machen wir Christinnen und Christen, die Kirchen, die Politikerinnen und Politiker es nicht schon immer auch genauso? Wir nehmen doch aus der Realität, aus unserer Tradition, aus der Bibel am liebsten nur das heraus, was uns passt und nicht allzu unangenehm ist. Dass dabei der ursprüngliche und tiefere Sinn „abgeschnitten“ wird, ist uns vielleicht noch nicht einmal mehr bewusst. So steht in unserem Grundgesetz, dass alle Menschen vor Gott gleich sind und Menschenrechte und Menschenwürde für alle Menschen gelten! Fällt uns noch auf, wie leicht wir ein Teil dieses Satzes, oft gedankenlos, in unserem Kopf streichen? Am 11. November, dem St.-Martinstag, geht es um eine zentrale Folgerung aus dem christlichen Gebot der Nächstenliebe – das Teilen! Die Legende des Heiligen Martin überliefert auch, dass er den Armen schon alles geschenkt hatte und nur noch diesen Mantel sein Eigen nannte, und selbst den teilte er noch mit dem Bettler: Zum Glück haben wir Protestanten ja keine Chance, jemals heilig gesprochen zu werden. Deshalb müssten wir uns diesen Heiligen Mann nicht so 100-prozentig zum Vorbild nehmen. Es könnte uns aber allen helfen, selbstkritischer und ehrlicher zu werden und nicht so häufig an unseren Werten und Überzeugungen so lange herum zu schnippeln und zu schneiden, bis sie uns in unserem Alltag nicht mehr störend in die Quere kommen. In diesem Sinne: Der Martinstag – auch ein Tag für Protestanten! Die Autorin Pfarrerin Monica Minor, 42 Jahre, seit 13 Jahren Gemeindepfarrerin in Haßloch.

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