Neustadt Als die Stasi zum Verhör überging

Hoher Besuch 2001 im Neustadter Rathaus: Oberbürgermeister Jürgen Weiler (Zweiter von links) und Ministerpräsident Kurt Beck (re
Hoher Besuch 2001 im Neustadter Rathaus: Oberbürgermeister Jürgen Weiler (Zweiter von links) und Ministerpräsident Kurt Beck (rechts) schauen zu, wie sich die Staatschefs Aleksander Kwasniewski (Polen), Jacques Chirac (Frankreich) und Gerhard Schröder ins Goldene Buch eintragen.
Herr Weiler, wie geht es Ihnen?

Ach ja, wie es einem 80-Jährigen eben geht. Ein paar Wehwehchen bringt das Alter mit. Aber es ist auch eine schöne Lebensphase, weil man viel Zeit hat. Ich nutze das vor allem zum Lesen und behalte meine Erkenntnisse daraus aber für mich. Ich wollte früher auch keine Ratschläge von alten Männern … Ihrer SPD geht es vor allem bundesweit nicht so gut? Ja, das tut mir weh. Aber es reicht nicht, Moral zu predigen. Man muss für die Leute auch etwas tun. Das wurde lange vernachlässigt. Und wie sehen Sie die SPD vor Ort? Ein Hoffnungsschimmer. Pascal Bender hat einen sehr guten Oberbürgermeister-Wahlkampf 2017 gemacht, auch wenn es am Ende nicht gereicht hat. Diese Aufbruchstimmung ist immer noch zu spüren. Wobei er es nicht leicht hat. Wir haben eine überalterte Stadt. Da wird oft konservativ gewählt. Wie macht sich Ihr Nach-Nachfolger Marc Weigel? Sehr gut, wobei er ein schweres Erbe übernommen hat. Das Abfallwirtschaftszentrum wird uns noch viel Geld kosten. Ich hatte ja auch schon meine Probleme mit der Firma Gerst. Und Hertie ist ja auch noch nicht in trockenen Tüchern. Das Gleiche gilt für den Klemmhof. Aber lassen Sie uns von etwas anderem reden. Ich möchte nicht über meinen Nachfolger (Anmerkung der Redaktion: Hans Georg Löffler) reden. Das gehört sich nicht. Wie sehen Sie Ihre eigene Amtszeit im Rückblick? Wir haben in zehn Jahren mehr als zehn Millionen mehr eingenommen als ausgegeben. Was wurde ich kritisiert, als ich mich daran machte, die Häuser am Marktplatz zu privatisieren. Heute ist das unser Schmuckstück. Oder den Erhalt der Schwimmbäder und die Idee mit der Traglufthalle. Darauf bin ich schon ein wenig stolz. Große Gewerbeansiedlungen gelangen auch Ihnen nicht. Wo sind denn die Grundstücke? Den Investor, von dem alle reden, der auf einen Schlag 1000 Arbeitsplätze bringt, gab es weder damals, noch gibt es ihn heute. Wir sind eine Beamten- und Verwaltungsstadt, die natürlich darunter gelitten hat, dass Banken, Versicherungen und die Telekom im großen Stil Arbeitsplätze abgebaut haben. Ein paar Stichpunkte zum Jubiläumsjahr 2019. Jürgen Weiler ist 80 geworden, und die kreisfreie Stadt Neustadt besteht in den heutigen Grenzen seit 50 Jahren. Das ist doch gut gelungen. Die Werbewirksamkeit ist durch die Weindörfer, die damals eingemeindet wurden, deutlich gestiegen. Egal ob Hambacher oder Diedesfelder oder Mußbacher, die jungen Leute sind heute alle Neustadter. Das freut mich sehr. Das Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum (DLR) feiert seinen 110. Geburtstag. Für mich ist das die Obst- und Weinbauschule. Die war immer wichtig. Die Entwicklung des Weincampus ist sehr erfreulich, zeigt aber auch, was Neustadt für einen großen Fehler gemacht hat unter Wolfgang Brix. Der wollte keine Fachhochschule, deshalb kam sie nach Landau und ist heute Universität. 800 Jahre Königsbach. Das sind unsere „Bayern“, ein schönes Dorf, katholisch geprägt. Ich mag die Königsbacher, sie waren und sind ungemein kooperativ und konstruktiv. Mit denen hatte kein Oberbürgermeister Ärger. Auf die konnte ich immer zählen. 50 Jahre Wohnungsbaugesellschaft. Bezahlbarer Wohnraum ist gerade für Neustadt sehr wichtig. Dass die WBG heute so gut da steht, ist das Verdienst von Geschäftsführer Dietmar Kurz, der sie toll saniert hat. 30 Jahre Partnerschaft mit Wernigerode. Geschichte hautnah zu erleben, ist etwas Faszinierendes. Die Vertragsunterschrift in der damaligen DDR werde ich nie vergessen. Ich habe als Vorsitzender der SPD-Faktion daran teilgenommen und beim Abendessen eine Diskussion mit einem Vertreter unserer CDU-Fraktion gehabt. Da kam die Stasi auf uns zu und holte uns zum Verhör, weil wir die Partnerschaft gefährden wollten. Dabei haben wir nur Argumente ausgetauscht. Aber das kannten die ja nicht. Welche Partnerschaft beziehungsweise Partnerstadt liegt Ihnen denn besonders am Herzen? Ich war immer sehr gerne in Lincoln, umso bestürzter bin ich über das heutige Brexit-Chaos. Die Engländer können so überlegt sein und haben einen wunderbaren schwarzen Humor, den ich sehr mag. Aber im Moment scheint dort in der Politik der Geist komplett ausgeschaltet zu sein. Das ist schlimm in meinen Augen. In Ihre Amtszeit als Oberbürgermeister fällt auch die Partnerschaft mit Quanzhou in China. Die ist damals wie heute sehr wichtig. Die Chinesen haben bei unserem ersten Besuch dort 20.000 Flaschen Wein geordert. Heute ist China eine Weltmacht. Es freut mich sehr, dass Marc Weigel die Kontakte wieder intensiviert. Davon kann Neustadt nur profitieren. Wie sehen Sie die heutige Jugend, zum Beispiel bei der „Fridays-for-Future“-Demonstration auf dem Marktplatz? Ich kann mich für die Forderungen erwärmen, aber nicht für den Streik an Freitagen während der Schulzeit. Man kann auch an einem Samstag oder Sonntag auf sich aufmerksam machen.

Alt-Oberbürgermeister Jürgen Weiler 2019 bei seinem Besuch in der Neustadter Redaktion der RHEINPFALZ.
Alt-Oberbürgermeister Jürgen Weiler 2019 bei seinem Besuch in der Neustadter Redaktion der RHEINPFALZ.
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