Neustadt „Als Christen Pflicht zum Widerstand“

„Gottesdienst anders“ hieß es am Abend des Reformationstags wieder in der protestantischen Pauluskirche. So viele Besucher wollten teilnehmen, dass sogar zusätzlich Stühle nötig wurden. Und das lag nicht an der zur Pause versprochenen Kürbissuppe, sondern an einem besonderen Kanzelredner: dem Bundesminister a.D. Heiner Geißler.

Kommt er? Oder kommt er nicht? Die Spannung ist groß, als von Geißler wenige Minuten vor Beginn des Gottesdiensts noch nichts zu sehen ist. Handys werden gezückt, der Versuch gemacht, den Gast zu erreichen. Ganz leise wird die Befürchtung geäußert, er könne den Termin vergessen haben? Nein, hat er nicht. Er ist nur pünktlich – auf die Minute genau. Mit den letzten Glockentönen kann Pfarrer Friedrich Schmidt-Roscher den 84-Jährigen in die Kirche geleiten. Die Band „Eckstein“ intoniert Bob Dylans „Knockin’ on Heaven’s Door“ aus dem Film „Pat Garrett jagt Billy the Kid“ und führt mit der gnadenlosen Gesellschaft im Wilden Westen musikalisch aufs Thema hin: „Der gnädige Gott und die gnadenlose Gesellschaft“. Darüber wird Geißler die Kanzelrede halten. Davor eine Spielszene, in der Schmidt-Roscher Martin Luther gibt. Auch sie setzt sich mit Gnädigsein und Christenpflicht auseinander, zeigt zudem, dass das Thema Flüchtlinge heute so aktuell ist wie zu Luthers Zeiten. Dröge wird dieser Abend nicht, dafür spannungsgeladen. Dass Geißler als Katholik in der protestantischen Pauluskirche spricht, ist seiner Bekanntschaft mit Schmidt-Roscher zu verdanken und einem weiteren Umstand: „Jeder intelligente Katholik ist immer in seinem Inneren auch ein Protestant.“ Ein Satz, der so locker daherkommt, das Eis bricht und die Besucher zum Lachen bringt; der aber auf den Punkt bringt, wie intensiv sich Geißler mit den beiden großen Religionsrichtungen in Deutschland, ihrer Geschichte, der Bibel und vor allem dem Glauben auseinandergesetzt hat. Er spricht darüber, warum Luther sich von der katholischen Kirche abwandte, vom Freikaufen von Sünden, von Luthers krankhafter Sündenangst und seiner Erkenntnis, „dass dieser richtende Gott nicht der Gott des Evangeliums ist“. Luther erkannte „nicht den rächenden, sondern den gnädigen Gott“ und rückte damit „den Glauben an Jesus wieder in den Mittelpunkt, nicht die Kirche“. Luther begreift den Menschen als in seiner Würde unantastbar. Und diese „gilt für alle Menschen, für Männer, Frauen und Kinder, unabhängig davon, ob jemand Deutscher oder Ausländer ist“. Die Gnade, so Geißler, „ist ein Geschenk, ein unverdienter Gunstbeweis“, auch wenn jemand einen Fehler gemacht hat. Das entscheidende Fundament unseres Glaubens aber ist die Liebe zu Gott, wozu auch das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben“ gehört. Ernst nehmen müsse man daher „Sünden, die gegen die Liebe verstoßen, gegen das Miteinander“. Als Christen, sagt Geißler, haben wir „die Pflicht, uns dafür einzusetzen, dass die Welt besser wird“ und denen zu helfen, die in Not sind. Auf diese Weise könnten die zwei Milliarden Menschen, die sich zu Christus bekennen, „die Welt revolutionieren“. Er geißelt die gnadenlose Gesellschaft nicht, macht vielmehr Vorschläge, wie diese zu verbessern ist. Das kann auch bedeuten zu kämpfen, sagt er später in der Diskussion: „Wir sind als Christen nicht verpflichtet, keinen Widerstand zu leisten“, ja „wir müssen Widerstand leisten gegen die, die Menschen in Not bringen“. Auch in der Diskussion bleibt Geißler souverän. Er beantwortet fundiert Fragen wie diejenige, warum der Pazifismus in England und Frankreich in den 1930er Jahren dazu beitragen konnte, dass Hitler so stark wurde; hält den Einfluss des Christentums auf die Politik für weniger wichtig als eine Politik zu machen, „die Menschen aus Ländern hilft, denen es schlecht geht“, und wünscht sich mehr Rücksichtnahme auf die Rechte der Frauen. Ganz bibeltreuen Fragern rät er, zu unterscheiden, was im Evangelium steht und was Theologen daraus gemacht haben. (hjm)

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