Ludwigshafen „Wir schließen die Lücken der Erinnerung“

Frau Kleinschnitger, Gedenkarbeit ist oft ritualisiert, eine Pflichterfüllung – etwa an Gedenktagen, die regelmäßig wiederkehren und nach dem gleichen Muster begangen werden. Was ist bei den Stolpersteinen zum Gedenken an NS-Opfer anders?

Als wir den Verein „Ludwigshafen setzt Stolpersteine“ im Jahr 2007 gründeten, formulierten wir unseren Anspruch so: „Die Notwendigkeit, für das Erinnern und für das Gedenken neue und lebendige Formen zu entwickeln, um nachfolgende Generationen zu beteiligen, das muss unser Ziel sein.“ Das Verlegen der Stolpersteine – ist das auch ein Schlusspunkt der Gedenkarbeit? Gewissermaßen. Denn diesem Schlusspunkt geht eine manchmal jahrelange Recherchearbeit voraus. Wir fühlen uns vor allem den Opfern und ihren Angehörigen verpflichtet. Für die Angehörigen ist dieser Bruch in ihrer Familiengeschichte – die Deportation, der Tod, manchmal der Freitod – ein gewaltiges Problem, das in vielen Fällen nicht aufgearbeitet worden ist. Man spricht nicht darüber. Umso quälender sind die Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Diesen Bruch, diese Wunden in der eigenen Familiengeschichte erträglich zu machen, darüber zu reden, Klarheit zu bekommen – dabei helfen wir. Wir möchten, dass diese Wunden heilen. Wie verläuft Ihre Arbeit? Uns erreichen Nachrichten oder Anfragen von überall, wo Nachkommen von NS-Opfern leben. Die Informationen sind dürftig. Manchmal sind Kopien von Dokumenten angehängt, die zu einer ersten Spur führen. Mithilfe des Stadt- und des Landesarchivs stehen irgendwann die Fakten fest. Es entsteht ein Bild, und wir sind in der Lage, die Lücken der Erinnerung zu schließen und durch die Verlegung der Steine Schicksale wieder sichtbar in die Stadt zu bringen. Deshalb werden die Stolpersteine am letzten Wohnort der meist jüdischen Opfer verlegt? Ja, und zwar am letzten freiwillig gewählten Wohnort der Ludwigshafener Bürger. Der Wohnort wird somit auch zum sichtbaren Tatort. Hier wurden die Menschen dem Leben entrissen. Der Terror hat in der Nachbarschaft stattgefunden. Davon zeugen die zehn mal zehn Zentimeter großen Messingplatten auf den Steinen. Ja, und weil die Terrorzeit des Nationalsozialismus für die nächsten Generationen immer weiter wegrückt, zu einem weiteren Kapitel der Geschichte wird, deshalb können wir in der Gedenkarbeit neue Wege gehen: durch die aktive Auseinandersetzung und das eigene Entdecken von Geschichte. Beziehen Sie deshalb auch Schüler ein? Die Teilnahme von Schülern bei der Verlegung von Stolpersteinen und die Gestaltung der Gedenkzeremonien sind für unser Verständnis grundlegend. Auch haben Fake-News und Fake-History, also Falschmeldungen auch über geschichtliche Tatsachen, in den digitalen sozialen Medien einen immer größeren Einfluss auf die historisch-politische Urteilsbildung junger Menschen. Wir verstehen uns deshalb auch als Angebot, sich forschend und kritisch mit der Zeit des Nationalsozialismus zu befassen. Sie erhoffen sich auch eine Wirkung auf unser Miteinander heute? Wir kooperieren mit Bürgerinnen und Bürgern, Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und politischen Parteien. Aktive Gedenkarbeit ist nötig, um Rassismus, Ignoranz und Gewaltherrschaft als Wesensmerkmale einer Diktatur zu entlarven und um für Toleranz, Friedlichkeit und Miteinander in einer demokratischen Stadtgesellschaft zu werben. Um in diesem Sinne zu handeln, gehen Sie auch in die Stadtteile, konnten zum Auftakt seit dem 10. November ein leerstehendes Ladenlokal in der Lisztstraße 176 nutzen. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir dieses Nachbarschaftsprojekt zur Erinnerungsarbeit kostenlos für einige Wochen nutzen konnten. Am Sonntag, 3. Dezember, ziehen Sie aus – wie zufrieden sind Sie mit der Resonanz? Die Spurensuche unter dem Titel „Building Memories“ (Gebäude der Erinnerung, auch Erinnerungen bauen) haben wir in Süd begonnen, und wir haben tatsächlich manchen Hinweis auf jüdische verfolgte Mitbürger bekommen, die in dem Haus mit der Nummer 176 oder in der Nachbarschaft gelebt haben. Wir hatten feste Öffnungszeiten und sind mit 15 Ehrenamtlichen an 19 Tagen mit Vorträgen, Führungen, Ausstellungen im Viertel präsent gewesen. Für den gesamten Zeitraum rechne ich mit insgesamt etwa 450 Besuchern. Zur Person Monika Kleinschnitger, Jahrgang 1966, ist Sprecherin des Vereins „Ludwigshafen setzt Stolpersteine“. Sie hat Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg, Mannheim und Mainz studiert und ist stellvertretende Schulleiterin am Staatlichen Pfalz-Kolleg in Speyer. Seit 1994 ist sie in Ludwigshafen Grünen-Stadträtin. Kleinschnitger ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

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