Ludwigshafen „Obdachlose ohne Ende“

Frischer Vortrag: die Soziologin Jutta Allmendinger.
Frischer Vortrag: die Soziologin Jutta Allmendinger.

Nach Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Filmproduzent Nico Hofmann und Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert hat die vierte Mannheimer Rede eine Frau gehalten. Die Soziologin Jutta Allmendinge sprach sich gegen Abschottung gesellschaftlicher Gruppen und eine soziale Durchmischung als Voraussetzungen einer stabilen Demokratie aus.

Vor einem Monat erst hat Jutta Allmendinger den Bundespräsidenten nach Los Angeles begleitet. In der Millionenstadt an der amerikanischen Westküste hat Frank-Walter Steinmeier das von der Bundesrepublik erworbene Thomas-Mann-Haus, die einstige Residenz des deutschen Schriftstellers im amerikanischen Exil, eröffnet. Jutta Allmendinger gehört zu seinen ersten Stipendiaten. Nach dem Willen der Bundesregierung soll sich die Villa zu einem Ort der transatlantischen kulturellen und gesellschaftlichen Begegnungen entwickeln. In ihrer Mannheimer Rede verriet die 61-jährige Sozialwissenschaftlerin nun, womit sie sich während ihres dreimonatigen Aufenthalts von August bis November beschäftigen wird. „In L. A. bin ich über Obdachlose ohne Ende gestolpert“, sagte sie. „Wohnungslos Arbeitende“, die von ihrem Lohn in einer Vollzeitbeschäftigung die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Einer solchen, auch in Deutschland sich abzeichnenden Entwicklung entgegenzuwirken, nannte die Rednerin als eine vorrangige Voraussetzung für eine stabile Demokratie. Beim sozialen Wohnungsbau, der in Deutschland vielfach privatisiert worden sei, müsse die Politik auf Vermischung achten, um eine Ghettobildung zu verhindern. Die USA und die Banlieues Frankreichs, wo „ein gemeinsamer Werterahmen“ fehle, nannte sie als warnende Beispiele. Sorgen bereitet ihr auch die zunehmende Abschottung von Milieus. Zusehends, so die Beobachtung, verkehrten nicht nur sozial Gleichgestellte miteinander, sondern auch nur noch solche, die eine Meinung teilten. Durchmischung hieß daher eine der zentralen Forderungen Allmendingers in ihrer Rede, die das Mannheimer Nationaltheater mit dem Heidelberger Bildungs- und Gesundheitsunternehmen SRH im vergangenen Jahr ins Leben gerufen hat, um gesellschaftlichen Entwicklungen Impulse zu geben. Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin und Professorin an der dortigen Humboldt-Universität, stützte sich in ihren Befunden und daraus abgeleiteten Forderungen auf empirische Forschungen ihres Instituts. Dabei ließ sie vielfach auch eigene Erfahrungen in ihre sehr frisch und lebendig gehaltene Rede einfließen. Unpopuläre Vorschläge, mit denen die politisch engagierte Wissenschaftlerin schon einmal aneckt, gab es in Mannheim nicht. So stieß die Spezialistin für Bildungssoziologie vor ein paar Jahren mit ihrer Forderung nach Abschaffung von Hausaufgaben, um keine sozialen Ungleichheiten in der Schule aufkommen zu lassen, auf heftigen Protest. In Mannheim stützte sie sich nun auf eine repräsentative Befragung ihres Berliner Instituts, was die deutsche Bevölkerung in Zukunft erhalten wissen will. Eine überwältigende Mehrheit sprach sich für Erwerbsarbeit aus, auch als Voraussetzung eines erfüllten Lebens. Allmendinger ist daher keine uneingeschränkte Befürworterin eines bedingungslosen Grundeinkommens. Besonders Ältere forderten ferner mehr Wissen über Digitalisierung und deren technische Voraussetzungen. Dahinter stecke die Sorge um den Arbeitsplatz. Die Zuversicht des scheidenden Schauspielintendanten Burkhard C. Kosminski teilte die Soziologin in der sich an ihre Rede anschließenden Diskussion offenbar nicht. Dessen Prognose „Das Theater ist analog. Uns wird’s so weitergeben!“ konterte sie mit den Worten: „Das werden wir ja sehen.“

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