Die Stadtkolumne Quintessenz Der Krieg, die Hosen, der Irre und was zählt

Steffen Gierescher
Steffen Gierescher

„Unter den Wolken, wird's mit der Freiheit langsam schwer, wenn wir hier und heute, alle wie betäubt sind.“

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über den „Hüttenzauber im Saarland“ schreiben. Genauer gesagt: Über die wirklich beeindruckende Ausstellung „The World of Music Video“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte. Sie läuft noch bis 16. Oktober. Die anderthalb Stunden Autofahrt dahin lohnen sich: wegen der wunderbar stilvoll und bunt präsentierten Schau an sich, aber auch wegen der imponierenden Kulisse des alten Eisenwerks inklusive der King-Kong-Figur im „Paradiesgarten“.

Dann habe ich vor Kurzem im Radio „Die Toten Hosen“ gehört und ihren 2017er-Song „Unter den Wolken“ mit eingangs zitiertem Refrain. Passt heute mehr denn je in unsere verrückte Zeit. Noch rund 300 Tage bis Jahresende – und keiner weiß derzeit, wie die Welt bis dahin aussieht.

Als ich vor über 30 Jahren während des Mauerfalls das geteilte Berlin besuchte, war ich zarte 20. In meiner naiven jugendlichen Art dachte ich: Der Eiserne Vorhang fällt, alles wird nicht perfekt, aber irgendwie gut. Krieg mitten in Europa – niemals, keine Chance. Haben wir hinter uns. Und nun der von diesem Irren befohlene Einmarsch in die Ukraine. Ich fasse es nicht. Wie bekloppt muss man eigentlich sein?

Ich erinnerte mich an meinen vor wenigen Wochen verstorbenen Professor Klaus von Beyme, der uns Heidelberger Politik-Studenten mit auf den Weg gab: Geschichte verläuft nicht linear. Leider sollte er recht behalten. Mit Trump, Bolsonaro und dieser lächerlich-gefährlichen Karikatur aus Nordkorea sei die Spitze des dilettantischen Eisbergs bereits erreicht – dachte ich zumindest. Putin beweist das Gegenteil, droht mit nuklearer Vergeltung.

„Unter den Wolken, gibt's keine Starterlaubnis mehr, für all die Träume, all unsre Träume.“

100 Milliarden Euro will die Bundesregierung künftig in die Aufrüstung der Bundeswehr stecken. Was noch vor wenigen Wochen völlig undenkbar schien, wird wohl Realität. Deutsche Staatsraison, keine Waffenlieferungen in Krisenherde, war gestern. Mal alle Grundsätze von einem Tag auf den anderen über Bord geworfen. Mehr Panzer, mehr Munition – ist das tatsächlich die Lösung?

In meinem Sportstudio unterhielten sich neulich zwei Männer zwischen Beinpresse und Hantelbank darüber, ob „wir“ eine „atomare Schlacht“ überleben würden. So lapidar und nebenbei, als ginge es um Currywurst mit Pommes. Und: „Wir“ im Westen dürften uns ja nicht wundern, schließlich hätten „wir“ die Russen provoziert. Dann schnell rüber zur Bizepsmaschine. Weiterpumpen. Geht’s noch? Haben manche den Verstand verloren?

In der Redaktion zum Alltag überzugehen, ist angesichts der Entwicklungen nicht einfach. Der Spagat zwischen dem Ortsbeirat Gartenstadt und den Bomben auf Kiew ist groß, sehr groß – und tut weh.

Und nun? Sitze ich da, beiße in mein Schinkenbrötchen und hoffe, in den Abendnachrichten keine weiteren Hiobsbotschaften oder alternative Wahrheiten zu hören. Womit droht dieser Spinner als nächstes? Wer hält ihn auf? Lässt sich ein Wahnsinniger überhaupt stoppen?

Fragen über Fragen. Ich bin aufgewühlt. Orientierungslos. Frustriert. Konsterniert. Dass die EU aktuell so einig wie nie agiert, ist da nur ein schwacher Trost. War dafür echt ein Krieg notwendig? Hunderttausende sind auf der Flucht. 600 bis 700 werden auch in Ludwigshafen ankommen.

Unser Job ist es, ihnen zu helfen. Sie auf- und in den Arm zu nehmen. Ihnen unsere Solidarität zu zeigen. Zusammenstehen für Frieden. Mutig und Mensch sein. Wenn etwas zählt, dann das. Oder um es mit den „Toten Hosen“ zu sagen:

„Unter den Wolken, geben wir die Freiheit noch nicht her, weil sie uns heute alles bedeutet.“

Die Kolumne

Fünf Redakteure berichten für die RHEINPFALZ über Ludwigshafen. Ihre Erlebnisse aus dem (Arbeits-)Alltag nehmen die Redakteure in der Kolumne „Quintessenz“ wöchentlich aufs Korn.

x