Videokunst Das Herz tanzt: Die Völklinger Hütte zeigt Musikvideos – großartig

Eine spektakuläre Bühne für eine unkaputtbare Kunstform: Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte. Manche Leinwände sin
Eine spektakuläre Bühne für eine unkaputtbare Kunstform: Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte. Manche Leinwände sind Fußballtor-groß.

Es ist eine Ausstellung zwischen Kunstschau und stiller Disco, Kulturgeschichte und Parcours zur Erkundung der eigenen Popbiografie. 80 Clips laufen, 60 davon auf Großleinwänden. „The World of Music Video“ im Weltkulturerbe Völklinger Hütte bringt Herzen zum Tanzen. Einfach fantastisch.

Man kommt rein und – Wow. Diffuses Licht in der Gebläse- und Verdichterhalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, bunte Lichter fluten den düsteren Maschinenraum. Aus Schächten Geflacker. Die Schwungräder halten still wie schlafende Tiere. Eine riesige, leere Bühne, jäh. Großleinwände hängen. Monitore bilden am Eingang ein Spalier. Auf einem hampelt ungelenk der ewige Kunstschamane Joseph Beuys auf einer Bühne herum, Mikro in der Hand. Kein Ton ist zu hören, Gott sei Dank, sein „Sonne statt Reagan“-Song klingt schauderhaft, wie jeder weiß. Schon viel besser Yoko Ono, die – in einem Charlie-Chaplin-Anzug – den Ex-US-Präsidenten und Schauspieler auf dem Bildschirm gegenüber ebenfalls besingt. Auf einer der Riesenleinwände in einiger Entfernung betanzt derweil der Schauspieler und DJ und Künstler Lars Eidinger hyperaktiv einen öden Stadtraum. Ein wild gewordener Storch. Er trägt Kopfhörer – ganz so, wie man selbst in dem Moment. Denn am Eingang sind vorab sogenannte Media-Guides verteilt worden. Sie sind für den Besuch der Ausstellung unabdingbar. Auch Eidinger scheint bei seinem Gezappel zu „Keine Party“ einem inneren Zwang zu folgen. Dem Widerstandssong der Hip-Hop- und Electropunkband Deichkind, der sich gegen die Bräsigkeit der um die 50 Werdenden wendet. Aber im Ohr hat man per Media-Guide derweil, wie sich die 19-jährige Billie Eilish raunend selbst zum bösesten „Bad Guy“ ernennt. Sie fährt mit einem Bobby-Car Schleifen im neuesten feministischen Diskursraum, choreografiert Männerbäuche und besetzt als Yogin einen jungen Mann, der Liegestütze pumpt. Es ist das Video, dem man gerade – räumlich betrachtet – am nächsten ist.

Videos sind unkaputtbar

„Bad Guy“ läuft im Rücken des Betrachters riesengroß. Eilish, im gelben Hoodie, durchbricht gerade eine gelbe, papierne Wand. Die Musik im Ohr ist synchronisiert, weil sich der Media-Guide im Umfeld der jeweiligen Videos einloggt. Auf dem Display stehen dann die entsprechenden Inhaltsangaben. Jeder wipptanzt jetzt für sich allein vor sich hin. Nickt. Begrübelt sein Dasein. Zu sehen ist derweil, wie die damalige Flamme des Sängers Morten Harkets zu „Take on me“ in einen Comic-Strip steigt und mit ihm in der Realität wiederauftaucht – Hand in Hand.

Wer nicht ganz taub ist für Popmusik, hat dieses Video aus dem Jahr 1985 wahrgenommen, das der Urgrund der Karriere der norwegischen Band a-ha ist. 1,2 Milliarden Aufrufe auf Youtube sind dafür angegeben. Das Ende der Musiksender MTV und Viva hat das Genre Musikvideo nicht gekillt.

Denn es ist überhaupt nicht so, dass zum Beispiel der rührende Clip des Auftritts von Queen mit „Bohemian Rhapsody“ aus dem Jahr 1984 nicht auch auf dem neuesten Smartphone laufen würde. Irre eigentlich für eine Ausstellung, dass sich alle gezeigten Werke auch irgendwo im Original goutieren lassen. Rammsteins Mondlandung in „America“. Sias 2,4 Milliarden Mal angeklickter „Chandelier“-Clip, auf dem die elfjährige Maddie Ziegler ausdruckstänzerisch und mit Sia-Perücke ein Apartment erobert. Oder Björks Klassiker „All is Full of Love“, 1999 gedreht von Chris Cunningham, die Musik umkreist zwei Roboter, die in zartfühlenden Umarmungen begriffen sind. Aber es ist halt etwas komplett Anderes, wenn einem im Windschatten von Björks früher KI-Elegie in dieser industriellen Kulisse die Gänsehaut anfliegt. Und man in sich und den von dem Philosophen Theodor W. Adorno so genannten Verblendungszusammenhang versunken steht, den Musikvideos als kommerzielle Kunstanstrengung nun mal darstellen. Es ist egal für den Moment.

Tanz mit Degas

80 Clips aus 30 Ländern hat der noch relativ neue Generaldirektor des saarländischen Welterbes, Ralf Beil, für seinen, die Gegenwart von über 80 Jahren überfliegenden Überwältigungs-Parcours zusammengestellt. Politische und provokante, schöne und schräge. Der in Kunstkreisen viel diskutierte Film zu „Apeshit“ ist dabei, auf dem sich The Carters, das schwarze Paar Beyoncé und Jay-Z, den Pariser Louvre aneignen, der daraufhin einen Ansturm des jungen Publikums erlebt hat. Und eine Lockdown-Version des brasilianischen Künstlerkollektivs Heavy Baile, für die sich ein Mann mit Rastalocken in Klassiker der europäischen Malerei einklinkt, um sich etwa mit der Tanzklasse von Edgar Degas ein virtuelles Duell zu liefern – im einem Tanzstil, der aus den Favelas von Rio de Janeiro stammt.

Das älteste Video, Len Lyes 1936 für das britische General Post Office gedrehter Werbefilm, wirkt psychedelisch wie aus den sechziger Jahren. Der hektisch aufgenommene Auftritt des feministischen Punk-Kollektivs Pussy Riot am 12. Februar 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale dauert nur 41 Sekunden. Und dennoch hat er – auf einem anderen Feld freilich – Epoche gemacht, wie die komische Steckenpferd-Reiterei des Südkoreaners Psy zu „Gangnam Style“, mit der der Triumphzug des K-Pop losgetreten worden ist. 4,3 Milliarden Mal ist das Teil im Netz angeschaut worden.

„Gesamtkunstwerke im Minutentakt“ nennt der Kunsthistoriker Beil solche Musikvideos, geboren aus Tanzlust und kulturellen Ambitionen, politischen Veränderungswillen, Narzissmus und Marketing. Wie angefixt tigert er bei der Pressekonferenz durch die Hallen seines Hauses. Überall lauern Referenzen auf Entschlüsselung. Das heißt, wenn Künstler wie der vorhin schon angesprochene Beuys, wenn Yoko Ono oder Laurie Anderson nicht gleich selbst in eigenproduzierten Clips auftauchen.

So hat Andy Warhol 1984 für den The-Cars-Song „Hello Again“ künstlerisch wertvoll und mit seinen Kunstfilmen verwandt, verwackelte Kussszenen arrangiert. Auf dem „Can’t Stop“-Video der Red Hot Chili Peppers ist zu sehen, wie die Bandmitglieder sich Stifte in die Nase stecken – ganz so wie der österreichische Künstler Erwin Wurm in einer seiner „One Minute Sculptures“.

Kunst im Schacht

Der Nine-Inch-Nails-Film zu „Closer“ ruft – unter anderem – die Bilderfindungen von Man Ray auf. Buckethead föhnen mit ihrer Höllenmusik über Szenen von Hieronymus Boschs Triptychon „Garten der Lüste“. Und FKA Twigs umtanzt zu „Don’t Judge Me“ aus dem Jahr 2021 in der Londoner Tate Modern eine Skulptur der US-Amerikanerin Kara Walker, die vor Kurzem noch in der Frankfurter Schirn gefeiert wurde. Und trotzdem starrt man fast automatisch auf die verstörenden Typen zurück, die sich auf dem Video der Rave-Rapper Die Antwoord zu „I Fink U Freeky“ bizarr verrenken. Auch ohne Kenntnis, dass es auf Roger Ballens semi-professionellen Dokumentarfotos über die südafrikanische Unterschicht basiert. Einem bildstarken Apartheidsprotest aus den siebziger Jahren, der bei aller existenziellen Härte die Würde der Protagonisten bewahrt.

Es ist so, auch wenn es nicht „Buñuel“ in einem schreit, pikst der Stich ins Auge der britischen Schauspielerin Rosamund Pike, bevor sie alsbald einen hypnotischen Tanz vollführt in feuchten Untergrundgängen. Man fröstelt beim stilechten Abstieg in einen der für die Schau extra freigelegten Schächte, um Pike dort in dem Film zur Musik von Massive Attack („Voodoo in My Blood“, 2016) zuzusehen. Die Ausstellung funktioniert durch Verzicht auf popkulturelles, tanz- und kunsthistorisches Stalking auf mehreren Ebenen phänomenal.

Durchaus drin, das Frauenbild von Britney Spears verhängnisvollen Video zu „…Baby One More Time“ (1998) mit dem „Bad Guy“-Teil von Billie Eilish zu vergleichen. Aber ohne Anleitung. Durchaus möglich, die Umkehr der kulturellen Aneignungen zu verfolgen. Dass Videos „Epitome“ sind, der Inbegriff ihrer Zeit, schreibt Generaldirektor Beil nur im Katalog. Dass sie, wie es weiter heißt, „paradigmatisch für die systematische Ambivalenz des westlichen Spätkapitalismus“ zwischen Demokratisierung und Vereinnahmung stünden. Man darf aber auch nur dazu tanzen, als sei das Weltkulterbe ein Club. Man darf auch chillen, ohne Behelligung. Der eigenen Musikbiografie nachhören. Wieder jung sein im Geiste und Herzen. Lars Eidinger und „Keine Party“ am Ein- und Ausgang bringen einem schon wieder runter.

Die Ausstellung

Bis 16. Oktober. Am 28. Mai spielen Pussy Riot live in der Gebläsehalle, im Juni Peaches, weitere Konzerte, unter anderem mit der Deutsch-Rap-Crew Genetikk sind geplant. Infos: https://voelklinger-huette.org

In der Völklinger Hütte gedreht: Video von Genetikk.
In der Völklinger Hütte gedreht: Video von Genetikk.
Älteste Arbeit: Len Lyes Video von 1936.
Älteste Arbeit: Len Lyes Video von 1936.
Schriller Storch: Lars Eidinger in „Keine Party“.
Schriller Storch: Lars Eidinger in »Keine Party«.
Klassiker: Der Clip der Pet Shop Boys zu „Go West“.
Klassiker: Der Clip der Pet Shop Boys zu »Go West«.
x